Überlegungen zur Symbolik

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
Überlegungen zur Symbolik 

Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen, und überall steckt noch etwas anderes dahinter
Goethe

Aus heiterem Himmel kam die Frage: „Was ist ein Symbol?“

Keine eingängige Antwort wollte mir über die Lippen kommen. Ich fühlte mich ertappt. Da schreibe ich seit mehr als dreissig Jahre über Symbole und kann diese Frage nicht lässig beantworten.

Nach verzeihbarer Verblüffungspause fiel mir die allgemeinste Formulierung des Symbolbegriffs ein: Ein Symbol verweist auf etwas anderes. Es ist mit einem Wiedererkennungswert verbunden, der bei Platon eine erotische Komponente besass. Im „Gastmahl“ finden Sie das viel zitierte Gleichnis von den Kugelmenschen, die aus Angst von Zeus in zwei Menschen zerteilt wurden. Beide Hälften fühlen sich seitdem erotisch zu einander hingezogen. Das New Age machte daraus den Mythos den Seelenpartners, den man sogleich erkennt, wenn man ihn trifft. Bei Platon lautet das so: Jeder ist das Symbolon eines Menschen. Er verweist auf seine andere Hälfte, mit der er wieder eine Einheit bilden will.

Ein Symbol deutet auf ein Anderes, mit dem zusammen es eine Einheit bildet. Es weist auf eine Realität – wie der zeitgenössische italienische Anthropologe Fiorenzo Facchini schreibt -, die nicht logisch oder durch Konvention festgelegt wurde, sondern die „evoziert“ wird. Dieses Evozieren oder Anklingen ist freilich eine höchst ungenaue Beschreibung, die nicht nur Umberto Eco dazu verleitete, eine nur vage Festlegung der Symbole zu bedauern, um dennoch in ihr auch die Stärke der Symbolik zu vermuten.

Ein Problem besteht darin, dass das Symbol-Konzept (in der Wissenschaft wie in der Umgangssprache) für eine Vielfalt unterschiedlicher Phänomen herhalten musste und noch muss. Für die einen ist ein Symbol ein Zeichen (linguistische Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce), für die anderen ein Bild (oft in der religiösen Kunst), die dritten sehen es als Gegenstand oder wie Albrecht Dürer und Albrecht Altdorfer als eine Allegorie an. Für Goethe und die Weimarer Klassik verwandelt das Symbol eine Erscheinung in eine Idee, das Besondere und das Allgemeine werden im Symbol verbunden. Religiösen Menschen dient das Symbol als „heißer Draht“ zum Transzendenten. Die umfassendste Auffassung vom Symbol bietet der einflussreiche Ethnologe Claude Lévy-Strauss in seinem berühmten Ausspruch: Kultur ist eine Gesamtheit symbolischer Zeichensysteme. Vom Strukturalismus ab wird das Symbol als Element eines Systems und nicht mehr isoliert betrachtet.

Kulturelle symbolische Zeichensysteme sind von Konventionen festgelegt. Das heißt mit anderen Worten: was ein Symbol bedeutet, regelt die Konvention (weitgehend nach pragmatischen Gesichtspunkten). Damit vereinigt sich jedoch der Symbolbegriff ununterscheidbar mit dem Begriff des Zeichens. Außerdem würden Psychologen wie Freud, Jung und Lacan heftigst Levy-Strauss widersprechen. Nach ihnen ist die Beziehung vom Symbol zum Symbolisierten gerade unkonventionell – nämlich vom Unbewussten bestimmt.

Symbole sind also an eine bestimmte Gesellschaft gebunden und ihr Gebrauch setzt Bewusstsein voraus (eine Ausnahme davon stellen allerdings Jungs Archetypen dar).

Am stärksten ist der symbolische Ausdruck in der chinesischen und hinduistischen Gesellschaft verbreitet. Seit der Gupta-Zeit (4.-6. Jh.) geht der Hindu davon aus, dass alles Sichtbare ein Symbol für etwas Unsichtbares ist – mit anderen Worten: alles auf der Welt ist symbolisch. Beim Hinduismus fällt außerdem die sexuelle Konnotation bei fast jeder bedeutenden Symbolik auf (die hinduistische Symbolik stellt das ideale Beispiel für Freuds Sublimationstheorie dar).

Symbol und Zeichen

Wir leben nicht nur in einer Welt von Symbolen – eine Welt von Symbolen lebt in uns

J. Chevalier

Es ist erkenntnisfördernd, zwischen Symbol und Zeichen zu unterscheiden.

Bei einem Zeichen ist die Beziehung zwischen dem Zeichen und der bezeichneten Realität durch die Konvention festgelegt (wie bei Verkehrszeichen). Bei einem Symbol dagegen ist die Beziehung zwischen dem Symbol und der „evozierten“ Realität gerade nicht derart festgelegt, was sich bei Traumsymbolen deutlich zeigt. Ihre Bedeutung ist unter anderem von tiefenpsychologischen, biografischen und zeitgeistigen Bezügen bestimmt, die sowohl individuell als auch konventionell wirken. Ein Symbol hat mehr Freiheit etwas anklingen zu lassen als ein konventionell festgelegtes Zeichen, bei dem eine vage Bedeutungszuordnung seinen Sinn in Frage stellen würde.

Nach welchen Gesetzen richtet sich die Verbindung zwischen einem Symbol und dessen Bedeutung?

Sigmund Freud war der Ansicht, dass die Symbolbildung ein zugespitztes Bild schafft, das eine Bedeutung verdichtet. Außerdem tritt oft noch ein innerer Zensor auf, der die Erkennbarkeit des Gemeinten dadurch verschleiert, dass er emotionale Wertigkeiten verändert. Das geschieht häufig, in dem er sie auf andere Objekte verschiebt nach dem Muster „das heißgeliebte Auto symbolisiert die begehrte Frau“. Aber trotz aller Verschleierung ist dennoch hinter dem manifesten Symbol ein latenter eindeutiger Sinn verborgen (der freilich bei Freud monoton in der Wunscherfüllung erkannt wird).

C.G. Jung, der sich mit Freud über dessen Symbolbegriff bis zur dramatischen Entzweiung stritt, nahm an, dass das Symbol eine schöpferische Gestalt sei, die versucht, das Bewusstsein ihres Rezipienten zu erweitern. Bei seinen ausgiebigen Symboluntersuchungen gelangte Jung zu der Theorie einer Tiefenstruktur aller Symbole, die er „Archetyp“ nannte (und die er leider widersprüchlich definierte). Diese Supersymbole, auf die sich alle anderen Symbole zurückführen lassen, bilden die grammatische Struktur der Symbolsprache (das ist vergleichbar Noam Chomskys Tiefengrammatik in der Linguistik oder „langue“ der Sprache als System bei dem Schweizer Gründer der Linguistik de Saussure). Mit modernen und systematischeren Augen gesehen, geht Jung von zwei Modi aus, nämlich dem des Gegensatzes und dem des Unverständlichen (aber Geahnten) oder der zu großen Abweichung vom Erfahrungshorizont des Rezipienten. Den Gegensatz fasst Jung unter dem Aspekt Animus und Anima, das Unverständliche findet sich im Konzept des Schattens und des Höheren Selbst. So gesehen kann man sagen, ein Symbol verweist im Gegensatz zum Zeichen auf seinen Gegensatz oder auf ein Unverstandenes oder gar Unverstehbares.

Gerade in der religiösen Symbolik wird unter Einfluss des Neuplatonismus (ab 600 etwa) davon ausgegangen, dass ein Symbol stets auf die Wahrheit und damit auf Gott deutet. Da sowohl die Wahrheit als auch Gott nicht verstanden werden können, benötigt man Symbole. Diese Symbole verweisen aber nicht nur auf das Höhere, sondern sie stellen auch den Kontakt zu Gott und der Wahrheit her. Gemäß dieser frühen christlichen Auffassung dienen Symbole als Kommunikationshilfen zum Transzendenten. Selbst der deutsche Philosoph Ernst Cassirer geht noch zu Beginn des 20. Jh. davon aus, dass der Mensch durch die Symbole einen Kontakt zu den höheren Mächten bekommt, die er dann mit diesen Symbolen zu beeinflussen sucht. Nach ihm ist es weitgehend die Geistesgeschichte, die prägt, was ein Symbol symbolisiert. Der menschliche Geist verleiht also dem Symbol seine Bedeutung (eine klassisch neukantianische Ansicht), er ist der Sinnstifter.

Der Mensch ist der „homo symbolicus“ (F. Facchini, J. Ries u.a.). Die Bedeutung der Symbole wird von der kulturgeschichtlichen Epoche, die sie benutzt, maßgeblich beeinflusst. Das besagt zugleich, dass die Symbolbedeutung keine feste ist (wie es eher beim Zeichen zu erwarten ist) sondern eine dynamische, die sich mit Hegels Zeitgeist ständig ändert. Dass die Fackel den heimischen Herd und damit Heim und Familie bei den Römern symbolisierte, ist heute nur historisch von Belang, aber keineswegs mehr lebendige Symbolik.

Paul Ricoeur als Phänomenologe spielt das enfant terrible, wenn er davon ausgeht, dass ein Symbol unendlich Vieles bedeuten kann. Bedeutet ein Zeichen etwas Eindeutiges, so bedeutet ein Symbol Vieles. Gibt es da noch etwas nicht Zutreffendes? Diese Ansicht (die bereits im Hinduismus aufkam) darf nicht missverstanden werden. Sie besagt nicht, dass ein Symbol alles bedeuten kann in dem Sinne, dass die Zuordnung von Bedeutungen zufällig ist. Sie sehen es auch ein, dass ein Sofa schwerlich ein Fortbewegungsmittel symbolisieren kann, ein geballte Faust auch keinen Schlaf. Es muss Analogien geben (der Stoff aus dem die Assoziationen sind), also Parallelitäten oder ähnliche Muster zwischen Symbol und Symbolisiertem. Die oberflächlichsten ähnlichen Muster entsprechen der Konvention (Einlösung des Erwartungshorizonts). Hier liegt für mich die Grenze zwischen Symbol und Zeichen. Tiefergehende ähnliche Muster zwischen Symbol und Symbolisiertem bestehen oft darin, dass das Wesen des Symbols sich auf das Symbolisierte sinnvoll beziehen lässt. Das Wesen des Sofas im Beispiel oben ist die Ruhe. Dem Fortbewegungsmittel ist dagegen die Veränderung wesenhaft. Auf dieser Ebene kann keine symbolische Verbindung geknüpft werden. Nach Jung wäre das allerdings möglich, denn die Ruhe des Sofas steht komplementär zur Bewegung (Beziehung des Gegensatzes). Auf der Ebene der Traumsymbolik finden wir diesen komplementären Bezug häufig.

Die Erkenntnis der Verknüpfungsgesetze zwischen Symbol und Symbolisierten wird (im Gegensatz zum eindeutigen Zeichen) durch die Polysemie erschwert. Das meint, dass ein Symbol zugleich Unterschiedliches symbolisieren kann. Symbole besitzen durchweg Mehrfachbedeutungen – die meisten Symbole sind zumindest aus psychologischer Sicht polar. Sie können alles das bedeuten, das Ähnlichkeiten mit ihrer Struktur aufweist – damit ist die Auswahl der Bedeutungen eingegrenzt, wenn auch nicht notwendigerweise endlich.

Die Vieldeutigkeit eines Symbols ist zwar dem Positivisten ein Ärgernis, aber in ihr liegt die Stärke symbolischer Aussagen: sie können so das Leben in seiner Komplexität und Vielfältigkeit besser abbilden, als eindeutige Zeichensysteme. Mit der Eindeutigkeit kommt die Abstraktion ins Spiel, von der die Symbolik sich mit ihrem verschleiernden Charakter fernhält. Ein Symbol stellt nämlich sowohl etwas offen dar, als es auch verschlüsselt. Nur der „Eingeweihte“, der teilhat an der Welt dieser Symbolik, versteht sie. Ein Symbol ist grundsätzlich nur verständlich innerhalb eines symbolischen Systems (das sieht man deutlich an der Tiersymbolik des Mittelalters, die sich nur entschlüsseln lässt, wenn man den „Physiologus“ kennt, der die Assoziationen ganzer Generationen beeinflusste). Ein nicht-eingeweihter Betrachter kann die Symbolik nicht nur nicht entschlüsseln, sondern sie häufig gar nicht als solche erkennen. In esoterischen Kreisen ist diese Seite der Symbolik speziell betont worden. Sie gehen davon aus, dass es „normal“ ist, dass alles, was uns umgibt, symbolisch ist (auch Goethe vertrat vehement diese Ansicht). Aber nur der Bewusste weiß, die Ansprache durch das Symbol zu begreifen. Damit wird die Kenntnis der Symbolik mit etwas Elitärem verbunden, was sie schon immer war (z.B. Deutung des Vogelflugs und der Wolkenformen in der Antike durch eine hochgeehrte Gruppe von Priestern).

Nach Sigmund Freuds Sicht, die über den Franzosen Paul Diel mit seinem einflussreichen Werk über die Symbolik der griechischen Mythologie in die Archäologie und Kunstgeschichte hineinwirkte, entstammt jedes Symbol dem Unbewussten. Es muss deswegen uneindeutig sein, da dies den Produkten des Unbewussten wesenhaft ist. Das erkannte bereits Bernhard von Clairvaux im 12. Jh. intuitiv, wenn er vor der Verführungskunst bildhafter Symbole warnt. Symbole mit ihrem verhüllenden und zugleich offenen Charakter können wie das Weib die Fantasie des Mannes auf Abwegen führen. In der Vieldeutigkeit eines Symbols liegt seine Verführungskraft.

Weniger moralisch betrachtet, könnte man das Symbol als Mitte zwischen Logos und Mythos betrachten: es vereint das direkt Klare (Logos) mit dem Bildlichem, dem Geheimnis (Mythos) und damit verbinden sich Männliches und Weibliches in ihm.

Als Abkömmling des Unbewussten wird ferner dem Symbol stets eine emotionale Wirkung nachgesagt, die Zeichen oft vermissen lassen. In der therapeutischen Betrachtung von Symbolen wird davon ausgegangen, dass ein Symbol erst dann verstanden ist, wenn es sowohl intellektuell als auch gefühlsmäßig begriffen wurde.

Meine Vorstellung, wie ein Symbol zu seiner Bedeutung kommt

Jedes Symbol schafft ein Bedeutungsfeld, das vom essentiellen Muster dieses Symbols geprägt ist (es geht auf den gleichen Archetyp zurück). Alles, was Schnittmengen mit diesem Muster zeigt, kann symbolisiert und womöglich zugleich angesprochen sein. Schnittmengen zeigen sich in Analogien (Musterübereinstimmungen) zwischen Symbol und Symbolisiertem. Diese Analogien folgen meist den Mustern des Gegensatzes, der Zuspitzung und der Verschiebung und sind wahrscheinlich in letzter Instanz vom Unbewussten bestimmt. Analogien erschließen sich häufig über die ursprüngliche Funktion des entsprechenden Symbols (in sprachgeprägten Gesellschaften wie dem Christentum und Islam auch über die Etymologie des Symbolbegriffs).

Ist die Deckung zwischen Symbol und Symbolisiertem vollständig, sprechen wir vom Zeichen. Die Eindeutigkeit des Zeichens besitzt im Alltagsbereich Vorteile. Das vieldeutige Symbol hat Vorteile, wenn es um den Ausdruck komplexer (psychologischer) Bedeutungen geht.

Ist die Deckung von Symbol und Symbolisiertem gering, verliert die Symbolisierung an Kraft. Man würde sagen: „sie ist an den Haaren herbeigezogen“. Die meisten Mitglieder der entsprechenden Kultur würden sie nicht mehr spontan verstehen (das geschah der alchimistischen Symbolik speziell in ihrer Spätzeit). Bei fehlender Überschneidung gehören die Bedeutungsfelder unterschiedlichen Symbolsystemen an, die Ausdruck verschiedener Kulturen sind.

Mich verwunderte, als ich Ansichten zur Symbolik sammelte, dass sich fast jeder große Denker seit dem 19. Jh. zur Symbolik geäußert hat. Zu Beginn des 20. Jh. wurde – durch das von Ferdinand de Saussure geweckte Interesse an der Linguistik – die Frage aufgeworfen, was bedeutet was und nach welchen Regeln entsteht eine solche Bedeutungsverknüpfung. Solch eine Fragestellung schuf die idealen Voraussetzungen, sich über Symbolik Gedanken zu machen. Das geschah dann im Strukturalismus (der hier mit de Saussure, Levy Strauss, Ricoer und Lacan gebührend zu Worte kam).

Meister im Umgang mit der Symbolik ist das heutige Marketing. Der Gebrauchswert einer Ware tritt zunehmend hinter ihrem symbolischen Wert zurück. Mit Nike, Armani oder Porsche kauft man ein Imagesymbol, das ein großes Feld positiver Bedeutungen evoziert. Wenn man das Objekt des Begehrens besitzt, dann ist man glücklich. Man hat das Gesuchte gefunden. Das Symbol hat funktioniert. Die Einheit ist hergestellt. Dass es sich hierbei um den symbolischen Schein der Warenwelt handelt, mag dem zeitgeistigen Sein keinen Abbruch tun.

Zum Abschluss noch eine Betrachtung von Phänomenen, die oft mit der Symbolik verwechselt werden.

Symbol und Allegorie

Im Gegensatz zum Symbol verbildlicht die Allegorie eine abstrakte Idee (meist in einer Person dargestellt – z.B. der Teufel als Allegorie des Bösen) oder stellt sie in einer Erzählung dar. Die Allegorie umschreibt eine Sache, die bereits bekannt ist, während das Symbol etwas beschreibt, das nicht anders ausdrückbar und meistens nicht vollständig bekannt ist.

Die römische Ikonografie stellt fast immer Personifizierungen von Abstraktem dar und tendiert so häufig zur Allegorisierung. Von der Antike bis ins Barock war die Allegorie im kirchlichen und weltlichen Bereich beliebt.

Symbol und Attribut

Das Attribut weist auf eine göttliche oder seltener eine menschliche Figur, die stets mit diesem Attribut zusammen auftritt (z.B. der Hammer ist das Attribut Thors). Attribute dienen der Deutung ihres Eigentümers.

Symbol und Bild

Auch Symbole drücken sich bildlich aus, aber ein Bild drückt das aus, was es darstellt. Im Gegensatz zum Symbol verweist es nicht auf etwas anderes. Wenn wir das genau betrachten, ist diese Unterscheidung problematisch, denn auch jedem Bild wohnt die Tendenz inne, über sich hinaus zu weisen. Die Fotografie eines Picknicks verweist vielleicht auf Idylle und Unbeschwertheit, aber diese Konnotationen machen nicht die Grundaussage des Fotos aus (sie schwingen nur mit). Beim Bild steht das Dargestellte im Vordergrund und beim Symbol wird etwas dargestellt, um auf etwas anderes zu verweisen. Das Bild einer roten Rose hat nur jene rote Rose zum Thema. Die rote Rose als Symbol verweist auf die Liebe – mit ihren Dornen als Symbol des Verletzenden.

Mit dem Paläolithikum kommt das Bild als grafische Darstellung auf, was ein wesentlicher Entwicklungsschritt in der Nutzung der Symbole darstellte. Der magische Gebrauch der Symbolik reicht bis in diese Zeit zurück.

Symbol und Emblem

Emblem stammt vom griech. „emblema“ ab, was „Einlegearbeit mit Symbolgehalt“ bedeutet. Es ist eine hauptsächlich im Barock beliebte Kunstform, in der ein Bild mit einem Text verbunden wird. Der Sinn des Bildes wurde vom Text (meist ein Epigramm) erläutert. Das Emblem gehört in die Welt der Zeichen und nicht in die der Symbole, da es etwas eindeutig bezeichnet (was heute allerdings meist nur noch mit Spezialkenntnissen zu entschlüsseln ist).

Ferner werden Embleme (ohne Text, nur Sinnbild) oft von sozialen Gruppen genutzt, um eine politische, religiöse oder soziale Einheit zu zeigen. Das Hakenkreuz war zuerst das Emblem der NSDAP und dann der Faschisten in Europa und USA.

Symbol und Gleichnis

Bei einem Gleichnis wird ein Konzept oder eine Situation durch einen anschaulichen Vergleich verdeutlich. Wie häufig beim poetischen Gleichnis kann die Bilderwelt ausgeschmückt werden und wie beim biblischen Gleichnis eine epische Breite aufweisen. Im Gegensatz dazu ist das Symbol eine knappe auf dem Punkt gebrachte Darstellung von etwas anderem.

Symbol und Metapher

Die Metapher ist ein sprachliches Bild oder wie ich es mir als Eselbrücke merkte: ein Vergleich bei dem das Wie ausgefallen ist. „Die umwölkte Stirn“ war z.B. eine beliebte klassische Metapher. Nach Ricoer stellt die Metapher den linguistischen Aspekt des Symbols dar. Es sind die sprachlichen Assoziationen, welche Bilder wie „die Blitze ihrer Augen“ schufen. Dass der Blitz in diesem Fall Aggressionen symbolisiert, ist offensichtlich. Besonders die romantischen Dichter beschäftigten sich mit der Metaphorik und Symbolik, die nach ihrer Auffassung den Rezipienten mit einer Anderswelt verbinden, die nur poetisch ausdrückbar ist. Wie im Neuplatonismus werden Metaphern wie auch alle Symbole als Kommunikationsmittel mit etwas sonst Unzugänglichen angesehen. Sie sind der Schlüssel zu einer Anderswelt, die allerdings keineswegs göttlich sein muss, wie Mary Shelleys „Frankenstein“ und die Entdeckung des Horrors in der Romantik zeigen.

Literatur

Die Literatur zum Thema Symbolik ist äußerst umfangreich. Einen Überblick gibt

M. Lurker: Bibliographie zur Symbolkunde. Baden-Baden 1964

Die neuere Literatur zu diesem Thema finden Sie in der periodischen Bibliografie

Bibliographie zu Symbolik, Ikonographie und Mythologie (regelmäßige Veröffentlichung von 1968-1980)

Zeit im Traum

 

In der Welt der Quantenphysik gibt es letztendlich keine Zeit, weder ein Vorher noch ein Nachher und die Frage nach dem Wann spielt keine Rolle

Malcolm Godwin: The Lucid Dreamer

Wer sich ins Land der Träume begibt, erlebt das oft als Verwirrung. Er taucht in eine Welt ein, die Kants Ansicht Lügen straft, dass Raum und Zeit feste Determinanten unserer Welt sind. Schreiben Sie ihre Träume auf, ist es oft schwierig zu entscheiden, was geschah vorher, was nachher. Scheinbar geschah alles zugleich, die unbarmherzige Ordnung der Zeit eine Illusion.

Schlimmer wird es noch, wenn wir vorausweisende Träume betrachten, deren Existenz selbst der kritischte Geist nicht verleugnen kann. Für den bequemen Denker liefert die Zeitdeterminierung, wie wir sie aus dem Hinduismus kennen, eine willkommene Erklärung. Alles ist vorausbestimmt, auf Palmblättern oder in der Akasha-Chronik, die Madame Blavatsky eifrig las,  niedergelegt. Diese Schicksalsgläubigkeit findet ihre Sicherheit in einem determinierten Leben, in dem der Mensch denkt und eine Gottheit lenkt. Der Idee des freien Individuums, der wir mehr oder weniger bewusst huldigen, ist das ein Schlag in Gesicht.

Glücklicherweise bietet die moderne Physik seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einen akzeptablen Ausweg. Die Zeit ist relativ – uns fällt ein Stein vom Herzen. Was heißt das nun in Bezug auf den Traum?

Wenn wir träumen, dann verändert sich unser Hirnwellenmuster. Denken Sie sich das wie bei einem Radio: mit dem veränderten Hirnwellenmuster stellen Sie einen anderen Sender ein. Den anderen Sender können Sie auch als ein anderes Universum ansehen. Nun hilft uns John Wheeler, der Musterschüler Einsteins, weiter, der mit seinen Kollegen Everett und Rhiner eine Theorie von Paralleluniversen vorschlug. In den unterschiedlichen Universen, die alle übereinander geschichtet bestehen, gibt es unterschiedliche Zeitverhältnisse. Kommen wir zurück zum vorausweisenden Traum: mit diesem haben wir uns in ein Universum eingeschaltet, in dem die Zeit rückwärts fließt. Zuerst kommt die Zukunft, dann die Gegenwart und am Schluss löst sich alles in der Vergangenheit auf. Das ist wie beim Merlin der Artussage, der in der Zeit rückwärts lebt und deswegen der clevere Berater von König Artus sein kann. Auf den ersten Blick scheint dies auch wie eine Determinierung auszusehen, man könnte meinen, die Zukunft sei bestimmt. Das ist sie aber dennoch nicht, da alle Aussagen der Quantenphysik Wahrscheinlichkeitsaussagen sind, aber keine Notwendigkeiten.

Angesichts dieses Phänomens der Zeitumkehr muss unsere Sprache kapitulieren, denn ihre sinnstiftende Ordnung, die Grammatik, ist an unsere „normale“, von der Vergangenheit in die Zukunft fließende Zeit gebunden. Wenn wir aus einem Traum aufwachen, dann kommen wir aus einem zeitlosen Raum ins zeitgebundene Bewusstsein an. C.G. Jung geht davon aus, dass unser Bewusstsein sich komplementär zu unserem Unbewussten verhält. Das Unbewusste kennt keine Zeit, was die Freiheit in der Traumwelt ausmacht, das Bewusste braucht die Ordnung der Zeit, damit wir uns orientieren und zielgerichtet handeln können. Wenn wir also einen Traum erinnern, wendet unser Bewusstsein ein Trick an: es bearbeitet den eigentlichen Traum, dass er sprachlich ausgedrückt werden kann und dass wir ihm einen Sinn geben können. Das geschieht freilich nicht immer vollständig und so bleibt eine leichte Verwirrung bei vielen Träumen übrig, was denn nur im Traumgeschehen vorher und was nachher war.

Nur in unserem Unbewussten sind wir wirklich frei, deshalb können wir dort jenseits unserer alten Muster wahrnehmen und reagieren. Mathematiker schlugen vor, unser Unbewusstes als den Hilbert-Raum zu betrachten, in dem es keine Strukturierung gibt, außer jener, die der Betrachter in ihn hineinsieht. Das ist das postmoderne „every goes“. So ist es auch einsichtig, dass sich der Traum in Bildern mitteilt und höchst selten nur in Sprache. Im Bild ist im Gegensatz zur Sprache alles zugleich. Im Bild als solches gibt es keine Zeitgebundenheit, dort ist alles zeitgleich vorhanden.

Kommen wir zurück zum Phänomen des vorausweisenden Traums. Von vorausweisenden Träumen berichten Personen, die man in der USamerikanischen Forschung als „begegnungsanfällig“ bezeichnet. Das ist keineswegs eine psychologische Störung, sondern nur die Umschreibung dessen, was der Laie als „sensibel“ bezeichnet. Oft muss ich meine Hörer enttäuschen, wenn ich sage, dass zum einen vorausweisende Träume erst dann als solche bestimmt werden können, wenn die Voraussage eingetreten ist – und ob man dann nicht dann besser von selbstbestimmter Prophezeiung oder einem sich durchsetzenden Muster redet, ist eine andere Frage – und zum anderen diese Träume häufig nichts Bedeutendes voraussagen. Echte Warnträume, die stets die Gemüter anziehen, sind wesentlich seltener als gemeinhin angenommen wird. In der Antike wurden weitgehend nur diese Träume betrachtet, aber gleichzeitig lehrt uns die Geschichte, dass die Warnungen wie bei Caesars Ermordung und Kassandras Rufe nie befolgt wurden. Unser Bewusstsein arbeitet nach dem Prinzip, es darf nicht sein, was nicht sein kann und deswegen werden den Warnungen nicht geglaubt.

Wer es noch genauer wissen möchte, findet im Folgenden einen gekürzten Aufsatz von mir, den ich vor Jahren zu diesem Thema veröffentlichte

Das Universum träumt

Die Leere und der Raum waren wie die Zeit, oder die Zeit war wie die Leere und der Raum; war es dann also nicht denkbar, […], dass es dann Universen mit verschiedenem Zeitmaß gibt? Ist nicht gesagt worden, dass auf Jupiter ein Tag so lange dauert wie ein Jahr?

Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages

Relative Zeit & prophetische Träume

Ganz unfassbar ist für uns „zeitgeplagte“ Menschen, dass in den Sprachen der Aborigines weder Zeit noch Geschichte – wie im Traum – ein konkrete Rolle spielt. Es gibt zwar die Vorstellung „vor langer, langer Zeit…“, die unserem „es war einmal…“ entspricht, aber eine weitere Zeitdifferenzierung scheint auf dieser Ebene uninteressant zu sein. Sie wissen nicht, was vorher und was nachher war. Das scheint für die Ebene des Traums und der der Mythen Australiens nicht wesentlich zu sein.

Zeit ist eine Illusion

Ich möchte Sie zu einer Vorstellungsreise in ein quantenphysikalisches Konzept einladen, das besagt, dass die Zukunft darüber entscheidet, was in der Gegenwart geschieht.

Albert Einstein regte den amerikanischen Physiker John A. Wheeler und den englischen Astronomen Fred Hoyle an, die Relativität der Zeit genauer zu untersuchen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war es durch die Relativitätstheorie deutlich geworden, dass unser lineares Konzept von einer gleichmäßig in einer Richtung ablaufenden Zeit nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt. Bei der Beobachtung subatomarer Teilchen stellte man fest, dass die Zeit, die unsere Uhr misst, augenscheinlich nicht die einzige mögliche Zeit ist. Amerikanische Quantenphysiker wie Wheeler und Rhiner nahmen Reflexwellenwellen an, die in der Zeit rückwärts wirken. Das bedeutet, das zukünftige Ereignis wirft einen Schatten voraus. Es beeinflusst mit Hilfe dieser Reflexwelle alles das, was zuvor geschieht. Mit anderen Worten: Die Zukunft wirkt auf die Vergangenheit. Damit ist unser normales Zeitverständnis auf den Kopf gestellt.

Der britische Astronom Fred Hoyle hat sich seit etwa 1940 ausgiebig mit der Zeit aus dem Blickpunkt der Relativitätstheorie Einsteins beschäftigt. Er geht von der Theorie der parallelen Welten aus, die durch die amerikanischen Physiker Everett, Wheeler und Rhiner bekannt geworden ist. Danach kann man sich unser Universum wie einen Käsetoast vorstellen. Dieser Toast besteht aus drei Ebenen. Der Käse steht dabei für eine Welt, die Butter und das Brot für andere Welten. Dabei kann sich jede Welt von der anderen unterscheiden. Jede dieser Welten besitzt ihre eigene zeitliche Ordnung. In der Welt, die wir als „unsere Realität“ bezeichnen, läuft die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. In anderen Welten gibt es andere Zeitverhältnisse wie beispielsweise die zyklische Zeit (ein Vorstellungsmodell matriarchaler Kulturen) oder die Zeit, die rückwärts läuft.

Die Realität, die wir im Traum wahrnehmen, ist nicht nur eine dieser Welten, sondern die Überlagerung vieler Welten. Das bedeutet, dass die verschiedenen Schichten unseres Käsetoasts durchscheinend gedacht werden müssen. Wir können also erahnen, was auf anderen Schichten geschieht. Wir erleben also zugleich Zukunft und Vergangenheit. Das verwirrt.

Stellen Sie sich eine Welt vor, in der die Wirkung vor der Ursache liegt. Vom Standpunkt des Beobachters aus läuft aber die Zeit nicht nur rückwärts, sondern zugleich befindet er sich in unserer Alltagswelt, in der die Zeit vorwärtsläuft. Er findet sich also in einem System von Überlagerungen wieder. Die Quantenphysik geht davon aus, dass wir uns diesen Zustand als ein Treffen von zwei Wellen vorstellen können: Eine Welle, die von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft und eine andere Welle, die in der entgegengesetzten Richtung von der Zukunft in die Vergangenheit läuft. Der Quantenphysiker nimmt also an, dass Ereignisse, die noch nicht eingetreten sind, eine Welle erzeugen. Diese Welle wird beim voraussagenden Träumen dekodiert und in Bilder umgesetzt.

Traumforscher wie Montague Ullman und sein früherer Mitarbeiter Stanley Krippner untersuchten den Unterschied von prophetischen Träumen und gewöhnlichen Träumen. Sie nehmen an, dass beim gewöhnlichen Traum die erinnerten Tageserlebnisse mit im Gedächtnis gespeicherten Assoziationen und Vorstellungen von der Zeit widerspruchsfrei verbunden werden. Wir fügen die Bilder des Traums unserer Zeitvorstellung entsprechend zusammen und lassen diesen Traum so zu einer Geschichte werden. Die Bilder dieser Traumgeschichte werden aus sich überlagernden Hologrammen der Gehirnrinde erzeugt.

Beim vorausweisenden Traum dagegen werden die Bilder aus Hologrammen erzeugt, die von Wellen aus der Zukunft und aus der Vergangenheit produziert werden und so Abweichungen von unserer gewohnten Zeitstruktur aufweisen. Das verwirrt unsere „normale“ Wahrnehmung, da es in unglaublicher Weise von unserer Schulweisheit abweicht, dass wir die Zukunft sehen können.

Es stellt sich die Frage, warum der Träumer bisweilen seinen Empfangsmechanismus umstellt, und so prophetische Träume als Schnittpunkt zweier gegenläufiger Wellen empfängt. In den meisten Fällen hat er jedoch diesen Empfangsmechanismus für prophetische Träume abgeschaltet.

Der Engländer Michael Persinger hat als erster vor zehn Jahren Personen untersucht, die zu voraussagenden Träumen neigen. Das scheinen solche Menschen zu sein, die überempfindlich auf die elektrischen Aktivitäten ihres Temporallappens reagieren. Diese Menschen sind zugleich Individuen, die keinen starr fixierten Erwartungshorizont besitzen und so für neue Erfahrungen offen sind. Ob das wiederum an ihrer sensiblen Wahrnehmung der elektrischen Zustände ihres Temporallappens liegt oder nicht, konnte bis heute nicht geklärt werden.

Voraussagende und gewöhnliche Träume unterscheiden sich nach dem Physiker F.A. Wolf in bezug auf die Datenmenge, die ihnen zur Konstruktion ihrer Bilderwelten zur Verfügung steht. Dabei schöpft der voraussagende Traum aus einem unbegrenzten Datenreservoir – nämlich dem der Vergangenheit und der Zukunft. Dem gewöhnlichen Traum steht dagegen nur das vergleichsweise eng begrenzte Datenreservoir der Vergangenheit zur Verfügung. Es bleibt jedoch offen, warum einmal auf ein unendliches und ein anderes Mal auf ein endliches Datenreservoir im Traum zurück gegriffen wird. Traumforscher können bis jetzt nicht erklären, warum ein und die gleiche Person bisweilen vorausschauend träumt und dann wieder „normal“. Selbst begnadete Medien wie der Amerikaner Edgar Cayce haben nicht ausnahmslos vorausdeutend geträumt. Er selbst berichtet von „ganz normalen Träumen“, die sich mit prophetischen Träumen abwechselten.

Meiner Theorie zufolge kann das Unbewusste immer unendlich viele Daten aus der Zukunft und der Vergangenheit verarbeiten. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Unbewusstes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie Länder überblickt, die man von einem Berg aus sieht. Es verbindet diese Ausblicke zu einem komplexen Bild, wobei es Einblicke aus der Zukunft und der Vergangenheit miteinander verbindet.

Man kann sich das Unbewusste auch wie einen Maler denken, der Farben kombiniert, um zu einer bestimmten Aussage zu kommen. Gelb ist die Zukunft und Blau die Vergangenheit. Der Maler benutzt und mischt diese beiden Farben, um seine Aussage zu vermitteln. Genauso mischt und kombiniert unser Unbewusstes Daten aus der Zukunft und Vergangenheit, um sie zu einer für uns wichtigen Bedeutung neu zu kombinieren. Diese Kombination ist das Traumbild, das sowohl „gewöhnliche“ wie auch prophetische Aspekte aufweist. Wenn der Träumer Voraussagen in seinen Träumen bemerkt, werden sich mehr und mehr prophetische Träume einstellen, da dieser Träumer lernt, sich auf solche Voraussagen einzustellen. Ein prophetischer Traum erhöht also die Wahrscheinlichkeit weiterer vorausweisender Träume.

Ich und Es – die beiden unterschiedlichen Geschwister

Das Es besitzt den Überblick über Zukunft und Vergangenheit, indem es in assoziativer Weise zwischen den Zeiten hin- und herpendeln kann. Das Ich dagegen ist eine relativ starre Struktur, die zeitlich linear geordnet ist. Das Ich besitzt ein klares zeitliches Konzept, es kann nicht in die Zukunft sehen. Das Freudsche Es dagegen neigt paranormalen Wahrnehmungen wie der Prophetie zu, was Sigmund Freud klar gesehen hat. Freud sagte 1935, dass der Traum, uns für paranormale Erlebnisse öffnet, und tritt damit der noch heute weitverbreiteten Auffassung des römischen Politikers Cicero entgegen, der die Weissagung von Träumen als reinen Aberglauben abtat. Allerdings, so führte Freud weiter aus, ist die Fähigkeit zur Voraussage im Laufe der phylogenetischen Entwicklung durch effektivere Kommunikationsmethoden in den Hintergrund gedrängt worden. Das ist verständlich, da wir in unserer heutigen Umwelt ein gewisses Maß an Sensibilität opfern müssen, um die Menge der auf uns einstürzenden Daten effektiv zu verarbeiten.

Das Es besitzt schon allein durch seine Struktur die latente Fähigkeit, in bestimmten Bewusstseinszuständen wie dem Traum Voraussagen zu machen. Dem Ich sind diese Fähigkeiten aufgrund einer anderen Strukturierung fragwürdig und es versucht die Voraussage im Traum zu unterdrücken, da sie seine Ordnung stört. Deswegen erkennen wir häufig nicht die Voraussage in einem Traum.

Der Traum als Schrift

We are a pattern-loving, exception hating species
Steven Pinker

Die Welt ist die Handschrift einer anderen, niemals völlig lesbaren Welt; allein die Existenz entziffert sie
Carl Jaspers

Hans Blumenberg erinnert uns in seinem Wissenschaftsklassiker „Die Lesbarkeit der Welt“ daran, dass der Traum seit der frühen Neuzeit unsere Wirklichkeitsauffassung problematisiert. Mit dem Sich-Wundern über den Traum löste der Traum das Wunder ab. Descartes und Leibniz versuchten brieflich zu klären, ob das Leben ein konsistenter und endloser Traum sei. Die Frage der Abgrenzung zwischen Traum und Wirklichkeit konnten sie trotz allen aufklärerischen Elans nicht lösen. Ihnen erging es wie Tschuang Tse (4. Jh. v.u.Z.), der sich in seinem berühmten Schmetterlingstraum fragt, wer denn wen träumt – der Schmetterling ihn oder er den Schmetterling.

Heute erkühnt sich niemand mehr, Traum und Wirklichkeit scharf von einander zu trennen – sie sind siamesischen Zwillingen gleich nicht auseinander zu reißen.

Das Rätsel „was ist die Wirklichkeit – was ist Traum?“ führt den Denkenden zu der Wahrnehmung. Sie lässt uns etwas als wirklich oder traumhaft erleben. Je mehr etwas von unserer erwarteten Wahrnehmung abweicht, desto eher sind wir gedrängt es als traumhaft zu bewerten. Aus diesem Grund wird uns im Traum am ehesten bewusst, dass wir träumen, wenn wir mit dem Unwahrscheinlichen, also einer großen Abweichung von unseren Erwartungen konfrontiert werden. Die Wahrnehmung entscheidet simpel: Wenn wir ohne Hilfsmittel fliegen können, muss es ein Traum sein, genauso verhält es sich, wenn Bäume reden oder mit ihren Zweigen nach einem greifen. Es kommt zu einer einfachen Gleichung: wirklich ist das Wahrscheinliche, das Unwahrscheinliche ist traumhaft. Was als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich bewertet wird, ist eine Frage des Zeitgeistes.

Was sehen wir aber wirklich? Zunächst nur Bilder und Symbole, die mit anderen Bildern und Symbolen erklärt werden – was wir Deutung nennen. Der Traum zeigt sich (wie die Wirklichkeit) in einer Bilderschrift, weswegen Freud nach der Lektüre der Schriften des Begründers der modernen Linguistik Ferdinand de Saussure in seiner „Traumdeutung“ schreibt, der Traum sei einer Schrift vergleichbar. Er ist eine schriftliche Mitteilung an uns, die wir wie jeden anderen Text verstehen können, da wir diese Schrift kennen (wahrscheinlich eine angeborene Fähigkeit).

Schrift ist ein Supplement für das Gedächtnis wie schon die leidige Einkaufsliste zeigt. Die Bilderschrift des Traums erinnert uns an das Repertoire unserer Möglichkeiten und an Vergangenes, das heute noch wirkt. Schrift möchte stets etwas bewahren. Was bewahrt der Traum? Die Erinnerung an die Umstände, als sich grundlegende Muster in uns ausbildeten (die Freud dogmatisch in der frühen Kindheit ansiedelt). Erst wenn wir die Entstehung der Muster wieder erleben, können wir sie bewusst einsetzen, modifizieren oder auf sie verzichten – je nach der Situation. Alle Entzifferung der Traumschrift zielt somit auf Mustererkennung und gerade in der Unwahrscheinlichkeit des Traumbilds zeigen sich unsere Wahrnehmungsmuster deutlicher als im Gewohnten, das uns blind macht.

Wir lösen das Bilderrätsel, wenn wir den Diskurs der Nacht in jenen des Tags übertragen. Die Bedeutung eines Bilds oder einer Bildsequenz ist ein Link zur inneren Datenbank des Träumers/der Träumerin. Wird Wasser im Traum als verschlingend erlebt, ist dies ein gesetzter Link – oder besser gesagt: ein Link, der sich selbst gesetzt hat. Die Analyse solcher Verlinkungen zeigt Muster, die prägend für die Wahrnehmung und somit für die Konstituierung der Wirklichkeit für den Träumer/die Träumerin ist. Wer Wasser mit Verschlingen verlinkt, der hat sich eine Welt geschaffen, die von der Furcht vor Wasser geprägt ist. Menschen, die sich verstehen (einer Kultur angehören), teilen einen Großteil der Link-Muster, was sich in der Wirkung der Traumbildern von Werbung und PR deutlich zeigt. Aber Link-Muster erzeugen auch Streit: Der einzelne sieht seine Link-Muster als einzigartig und individuell. Ein Beobachter tendiert dazu, in diesem Link-Mustern Typisches zu sehen. Im Link-Muster zeigt sich beides zugleich:

das System der Sprache (das Überpersönliche, Regel), das die Grundlage des Verstehens ausmacht

die Wirkung der Erfahrung (das Persönliche, Regellosigkeit), die das persönliche Verständnis der Bildersprache ausmacht.

Die Quelle der Träume ist das Es. Es entzieht sich anarchisch jeder Einordnung. Wie in der Bilderschrift der Träume durchdringen sich Regelhaftigkeit und Regellosigkeit in ihm.

Damit eine Schrift und deren Verständnis funktioniert, bedarf es beider Strukturen: Code (die Sprache als System, Grammatik) und Nachricht (Sinn, Gehalt). Man ist zugleich mit zwei Seiten der Schrift konfrontiert, mit dem Sinn, der von der Bilderschrift bezeichnet wird, und mit dem Schriftzeichen an sich. Der Sinn ist die Deutung, die wir der Schrift der Bilder geben. Diese Bilderschrift des Traums ist also weder persönlich oder individuell, wie das Herz des Romantikers es sich vorstellt, noch ist sie allgemein. Sie ist stets beides, wobei ihr allgemeiner Anteil von der Ideologie der Umgebung des Träumers geprägt ist (was Freud als Über-Ich bezeichnete), ihr persönlicher Anteil dagegen von seiner Privatideologie (Ideologie könnte man als ein bestimmtes typisches Link-Muster fassen). Dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist, macht das Wesen jeder Schrift und Sprache aus.

In jedem von uns gibt es ein allgemeines Set von Regeln, das zeigt, welche Bildkombinationen als sinnvoll zulässig sind. Alles, was außerhalb dieser Regeln liegt, erleben wir als chaotisch und unwahrscheinlich, wenn nicht gar als unmöglich – kurzum es ist unlesbar für uns. Diese Regeln sind produktiv, da sie kombinatorisch wirken, d.h. sie erzeugen eine unendliche Menge von neuen Bildern. Archetypen generieren weitere Bilder in einem verzweigten Baum, der mit dem unserer inneren Enzyklopädie persönlicher Erfahrungen verlinkt ist. Die furchtbare Mutter als Abkömmling des Archetyps der Anima wird zur realen Mutter im Traum und kann von jeder als böse empfundenen weiblichen Person dargestellt werden – je nach individueller Verlinkung. Nur der Naive wähnt, dass diese persönliche Verlinkung nach der Devise „everything goes“ Freiheit bedeutet.

Jeder, der sich mit der Bilderschrift im Traum beschäftigte, kommt nicht umhin deren Doppeldeutigkeit zu erkennen. Der Traum teilt sich in symbolischen Bildern mit, die von einem überpersönlichen Konzept generiert werden (was in Symbollexika betont wird) und welche die persönliche Erfahrung des Träumers/der Träumerin individuell überarbeiten. Es ist wie bei allem Geschriebenen: auf der einen Seite ähnelt es sich, auf der anderen ist es individuell. Da jeder Text einen Metatext (Watzlawik) erzeugt, den wir als Deutung erleben, sollten wir aus unseren Träumen eine neue Geschichte schreiben, die wir uns erzählen und die unser Ich befriedigt. Wir konstituieren ständig unsere Welt mit solchen Geschichten, die wir uns freilich unbewusst erzählen. Traumdeutung dagegen ist ein bewusstes Geschichtenerzählen.

Traumdeutungstipps

Traumdeutungstipps
Grundsätzliche Vorgehensweisen bei der Traumdeutung

Betrachten wir einen Traum, ergeben sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Fragestellungen. Es hängt vom Erkenntnisinteresse des Träumers bzw. der Träumerin ab, mit welcher Fragestellung wir uns deren Traum nähern. Man kann diese beiden Fragestellungen als zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Ebenen der Traumdeutung ansehen.

Wunsch nach Erkenntnis der Zusammenhänge und Muster der eigenen Persönlichkeitsentwicklung.
Das erkenntnisleitende Interesse (J. Habermas) ist ein tiefenpsycholgisches. Es geht um die Bewusstwerdung von Mustern, die sich im Leben des Träumers / der Träumerin wiederholen. Dies ist der Blick auf neurotische Tendenzen in Sinne Freuds, der davon ausging, dass die Neurose ein unbewusstes, sich wiederholendes Muster ist, das uns unglücklich macht oder uns in unserer Persönlichkeitsentfaltung hemmt. Letztlich steht hinter dieser Traumbetrachtung die Frage: „Wer bin ich?“

Wunsch nach Erkenntnis der Potenziale und Möglichkeiten der eigenen Person in der momentanen Lebensphase.
Bei dieser Fragestellung richtet sich das erkenntnisleitende Interesse auf die Möglichkeiten der Träumerin oder des Träumers. Es stellen sich folgende Fragen
Was ist mir möglich?
Welche meiner Möglichkeiten lebe ich und welche nicht?
Diese Fragen sind häufig erst dann sinnvoll, wenn sich die Träumerin oder der Träumer mit sich selbst auseinandergesetzt haben oder der Inhalt des Traumes eine mögliche Erkenntnis der (nicht gelebten) Potenziale nahe legt.

Je dringlicher sich die entsprechende Frage stellt (Leidensdruck, Erkenntnisdruck), desto eher kann die Antwort durch die Bearbeitung des Traums erwartet werden.

Es erscheint oft sinnvoll, beide Fragestellungen zu beachten, bzw. auf beiden Ebenen zu arbeiten. Es ist auch möglich, mehrere Fragen zu stellen. Dabei wird sich herausstellen, welchen Themenkreis der Traum vorrangig behandelt. Auf einer tieferen Ebene hängen die erste und die zweite Fragestellung zusammen, da Selbsterkenntnis kein „An-Sich“ (I. Kant) ist, sondern ein „Für-Sich“, d.h. Selbsterkenntnis ist kein Selbstzweck, sondern wird betrieben, um mehr Möglichkeiten in seinem Leben zu sehen und zu realisieren.

Anhand des Inhalts des Traumes (der sich semantisch und strukturell zeigen kann) und der momentanen Lebenssituation sollte zusammen mit dem Träumer / der Träumerin überlegt werden, mit welcher der beiden Fragestellungen man die Traumbetrachtung beginnt. Im Sinn der Klarheit des Vorgehens ist es wichtig, beide Fragestellungen klar auseinander zu halten.

Die Klienten besitzen ein unterschiedliches Erkenntnisinteresse, ein unterschiedliches Bewusstsein und stehen an unterschiedlichen Positionen in ihrem Leben. Diese Variablen erzeugen ihre vordringliche Fragestellung.

Diese beiden unterschiedlichen Herangehensweisen (Fragestellungen), beeinflussen alle Ebenen der Traumdeutung.

 

Die Ebenen der Traumdeutung

Ebene 1a der Traumdeutung: Begegnung mit dem Ich (Persönlichkeitsentwicklung)

Im Zentrum dieser Ebene steht die Betrachtung der Entwicklung der Persönlichkeit. Der Fokus liegt darauf, Parallelen zu erkennen und zwar

Parallelen, die sich z.Zt. in den verschiedenen Lebensbereichen des Träumers oder der Träumerin zeigen (z.B. Beruf, Beziehung, Hobbys, etc.)

Parallelen, die sich in der Lebensgeschichte dieses Träumers oder der Träumerin zeigten (Wiederholungsstrukturen im Lebenslauf)

Das Erkenntnisinteresse ist auf Mustererkennung ausgerichtet. Diese Muster geben die Wahrnehmungseinstellung (Montagepunkt) des Träumers und der Träumerin wieder.

Es stellen sich folgende Fragen:

Wie nehme ich mich wahr?

Wie nehme ich meine Umwelt wahr?

Mit welcher Frage bezüglich der Entwicklung meiner Persönlichkeit gehe ich an den Traum heran?

Diese Fragestellung wird auf den folgenden vier Ebenen betrachtet:

Auswahl der Symbole
Welche Symbole scheinen geeignet, dem Träumer / der Träumerin eine Antwort auf ihre Fragen zu geben?
Dazu wird betrachtet, aus welchen Bereichen die Symbole des vorliegenden Traums stammen. Das gibt einen ersten Hinweis darauf, von welcher Perspektive aus die Träumerin / der Träumer sich selbst und die Welt wahrnehmen (Erkenntnis des Montagepunkts)

Assoziationen zu den Symbolen
Welche Assoziationen sind hilfreich bezüglich der Antwort auf die Fragen der Träumerin / des Träumers und welche nicht?
Insbesondere werden Assoziationen analysiert, welche die Vergangenheit des Träumers / der Träumerin betreffen. Es werden die Assoziationen zu den Symbolen genauer betrachtet.
Bei den Assoziationen sollte insbesondere bei Symbolen, die bestimmte Assoziationen nahe legen, darauf geachtet werden, welche Automatismen geäußert werden. Man kann bei bekannten Symbolen versuchen, diese auf neue Art zu sehen. Der Widerstand gegen diese Verschiebung des Montagepunkts lässt Muster deutlich erfahren. Z.B. ist es hilfreich, eine Präferenz der subjektstufigen oder objektstufigen Deutung zu erkennen (introvertierte bzw. extravertierte Muster zeigen sich u.a. auf diese Weise).

3. Interpretation
Geben die Interpretationen eine befriedigende Antwort auf die grundlegenden Fragen an den Traum?
Erhalte ich durch die Interpretationen neue Erkenntnisse?
Führen diese zu möglichen Evidenzerlebnissen?
Träumer oder Träumerin schauen sich speziell die Symbole an, die sie bei der spontanen Traumbetrachtung nicht beachtet haben oder die sie ängstigen oder die anderweitig negativ besetzt sind. Sie suchen sich z.B. einige der unauffälligen oder unangenehmen Symbole aus und deutet diese auf die gewohnte Art. Sie fragen sich: Was sagt das über meine Wahrnehmungseinstellung / meinen Montagepunkt aus?
Es wird die Interpretationen analysiert. Die Betonung liegt besondere auf der Tendenz zu negativen oder positiven Interpretationen, aber auch auf Interpretationen, die nichts Weiterführendes beinhalten. All diese Deutungen zeigen althergebrachte Traumdeutungsmuster, die nichts Neues erzeugen.

Betrachtung des gesamten Traumes unter dem neuen Blickwinkel
Die Träumerin / der Träumer ändert bewusst die Perspektive und spielt mit möglichen Perspektiven
Führt die Betrachtung unter dem neuen Blickwinkel zu Evidenzerlebnissen?
Es geht um die Betrachtung des Traums unter einem neuen Blickwinkel. Dafür sucht man nach anderen, nicht automatisierten Assoziationen und Deutungen. Z.B. werden negative Interpretationen bewusst ins Positive verändert und den automatisierten Interpretationen gegenübergestellt. Der Träumer oder die Träumerin spüren nach, ob sie so neue Möglichkeiten erkennen. Falls dies nicht der Fall ist, sollte nach Interpretationen gesucht werden, die zwangsläufig zwischen den beiden Polen liegen, und die eine konstruktive Veränderung in der Wahrnehmung des Träumenden ermöglichen.

Ad 1: Alle Symbole werden in Bezug auf die grundsätzliche Fragestellung des Träumers / der Träumerin betrachtet. Sie suchen sich

diejenigen heraus, die ihnen eine Antwort auf die gestellte Frage zu geben scheinen (die anderen Symbole bleiben vorerst unbeachtet)

die auffälligsten – unauffälligsten Symbole

die angenehmsten – unangenehmsten Symbole

die Symbole, die ihnen am klarsten sind – die rätselhaftesten Symbole

und deuten diese auf die gewohnte Art und Weise.

 

Ad 2: Die Assoziationen zu den Symbolen werden genauer betrachtet:
Besonders bei bekannten Symbolen, die bestimmte Assoziationen nahe legen, sollten weitere Assoziationen gesucht werden. Das verhindert, dass der Träumer / die Träumerin stets nur ihren Erwartungshorizont bestätigen und somit keinen Erkenntnisfortschritt machen. Die Analyse der automatisierten Assoziationen zeigt, wie der Träumer / die Träumerin wahrnehmen.
Fest besetzte Symbole werden also versucht, auf neue Weise zu sehen. Die neuen Assoziationen werden mit den alten verglichen, um den Unterschied zwischen der althergebrachten Sicht- und Assoziationsweise und der neuen Assoziations- und Sichtweise zu verdeutlichen.

Auf Grund der neuen Assoziationen werden neue Deutungen zu dem Traumsymbol gesucht. Dadurch kommt es zu einer mittleren Abweichung von Erwartungshorizont des Träumers oder der Träumerin bzw. zu einer Verschiebung des Montagepunkts.

Symbole, die ausschließlich auf der Subjekt- bzw. der Objektebene betrachtet wurden, könnten auf der Ebene betrachtet werden, auf der das Symbol noch nicht interpretiert wurde.

Ad 3: Interpretationen:
Hier liegt die Betonung speziell auf der Betrachtung des Unterschieds zwischen auf alten und neuen Interpretationen. Die Unterschiede können Aufschluss darüber geben, in welchen Mustern der Träumer / die Träumerin sich bisher bewegten und wie sie aus diesen herausfinden.

Folgendes Vorgehen bietet sich an: Den alten automatisierten Interpretationen werden die neuen gegenübergestellt. Dabei wird das Bewusstsein des Träumers oder der Träumerin für die Qualität des Unterschieds und dessen Konsequenzen geschärft.

den negativen Interpretationen werden bewusst positive und den positiven Interpretationen bewusst negative gegenübergestellt. Hier stellen sich die Fragen:
Welche Ängste treten bei diesen negativen Interpretationen auf?
Was habe ich bisher verdrängt?

Betrachtung der Interpretationen, die nichts Weiterführendes beinhalten. All diese Deutungen beinhalten alt hergebrachte (automatisierte) Traumdeutungsmuster, die nicht weiterführen, sondern vielmehr alte Muster zementieren und so zur Erstarrung führen.

Danach werden die einzelnen Interpretationen betrachtet und der/die Träumer/in spürt nach, ob sie konkrete neue Sicht- und Verhaltensmöglichkeiten beinhaltet. Falls dies nicht der Fall ist, sollte nach Interpretationen gesucht werden, die zwischen den beiden Polen (automatisierte und neue Deutung) liegen und eine Veränderung im realen Leben des Träumenden ermöglichen. Das ist die mittlere Abweichung vom Erwartungshorizont der Träumerin oder des Träumers, die stets Entwicklungen in sich birgt.

 

Es ist der schwierigste Schritt für den Träumer / der Träumerin, zu Interpretationen zu gelangen, die über die bisherigen Muster hinausführen. Das Ziel der therapeutisch ausgerichteten Traumdeutung besteht jedoch darin, Änderungen in der

Sichtweise

Fühlweise

Denkweise

Handlungsweise

hervorzurufen. Das geschieht, indem Träumer und Träumerin sich bewusst machen, was die Qualität dieser neuen Deutung und deren Konsequenz für das Alltagsleben ist. Eine Deutung ist nämlich erst abgeschlossen, wenn konkrete Änderungen im Alltagsleben vorgenommen werden.

Ad 4: Betrachtung des Traumes unter dem neuen Blickwinkel (Verschiebung des Montagepunkts)

Nun wird der gesamte Traum nochmals unter dem neuen Blickwinkel betrachtet. Realistisch geschieht das mit dem Bewusstsein, dass die bekannten Traumdeutungsmuster weiterhin ein Teil des Träumers / der Träumerin bleiben, jetzt aber schneller identifiziert werden.

Möglich ist auch mit Hilfe aktiver Imagination den Traum nochmals nacherleben zu lassen. Dadurch kann ein grundlegend neues Verständnis des Traums gefördert werden.

Die Verschiebung des Montagepunkts entsteht dadurch, dass sich unsere bisherigen Muster (Traumdeutungs-, Einstellungs-, Verhaltensmuster etc.) auf eine neue Art und Weise miteinander verknüpfen und von uns dadurch neue und zu realisierende Möglichkeiten erkannt werden. Aus diesen Erkenntnissen / Erfahrungen können neue Muster entstehen, die wiederum nach einer gewissen Zeit de-automatisiert werden müssen. Ich erwarte, dass die in dieser Methode geübten Träumerinnen und Träumer mit der Zeit zunehmend schneller Muster erkennen und diese ändern können.

Ebene 1b der Traumdeutung: Betrachtung der Möglichkeiten (Potenzialförderung in der Persönlichkeitsentwicklung)

Hier stehen die Fragen im Vordergrund:
Welche Erkenntnisse in bezug der Entwicklungsmöglichkeiten und der praktischen Umsetzung dieser Möglichkeiten bietet der Traum?

Welche Hinweise teilt der Traum mit, welche die momentane Lebenssituation des Träumers oder der Träumerin konstruktiv zu beeinflussen?

Mit welcher konkreten Frage bezüglich ihrer momentanen Lebenssituation betrachten Träumer / die Träumerin ihren Traum?

Das erkenntnisleitende Interesse liegt

  • auf dem Erkennen von Parallelen zwischen dem Umgang mit Potenzialen bei Eltern, Partnern und anderen Personen, die Träumer oder Träumerin maßgeblich beeinflussten. Wie und aus welchen Gründen wurden diese bisher von dem Träumer / der Träumerin abgewehrt oder einseitig ausgeführt?
  • auf dem Erkennen neuer Möglichkeiten, die womöglich in der Familie abgewehrt oder gefördert wurden
    die durch die Entwicklung des Träumers vorhanden sind
    die durch spezielle genetische Veranlagung dem Träumenden gegeben sind
    die von seiner sozialen Umgebung verstärkt oder unterdrückt werden

Folgendes Vorgehen schlage ich vor:

Zunächst wird der Status quo (die „Ist-Perspektive“) betrachtet, d.h. Schwierigkeiten, Lösungsmöglichkeiten, Potenziale im Träumer / der Träumerin selber werden bewusst gemacht. Dabei ist davon auszugehen, dass sich der Status quo entweder im Traum

widerspiegelt

abgewehrt wird (Verdrängung)

ambivalent zu Tage tritt

Der Status quo zeigt sich vorzüglich im Verhalten des Traum-Ich, welches die unbewusste Einstellung zur Ist-Perspektive widerspiegelt, und in den Symbolen selbst.

Entweder ist das Traum Ich

  • nicht anwesend
  • reiner Beobachter
  • vorhanden und passiv
  • vorhanden und aktiv

 

Haben Träumerin oder Träumer ihre jetzige Situation erkannt, sollten sie aufgefordert werden, konkrete Beispiele zu bringen, wann sie sich die letzten Male gemäß dieser Muster verhielten, wie sie sich dabei fühlten und wozu diese Handlungs- oder Sichtweise führte. Dadurch werden die Muster konkret.

Fallen den Träumern keine Beispiele ein, kann der Therapeut (oder sie selbst sich) fragen, wen der Träumer kennt, der sich so verhält? Es können Personen der Umgebung des Träumers sein oder Figuren aus der Literatur oder den Medien. Der Fokus liegt auf der Erkenntnis, wie diese Personen sich konkret verhalten (Mustererkenntnis) und zu welchem Ergebnis das führt. Diese Betrachtung sollte nicht nur einseitig intellektuell durchgeführt werden, sondern die Träumer sollten dabei ihre Emotionen spüren.

Wenn der Träumer / die Träumerin über andere Personen reden, wird stets gefragt, ob dies Aussagen über sie selbst und ihre eigenen Muster sind.

In Traum und Leben sind folgende drei Grundformen der Musterwiederholung zu erkennen:

Altes wird wiederholt, nichts Neues entsteht: Das zeigt sich in Traum und Leben durch zu wenig Aktivität.
Frage: Was wäre geschehen, wenn der Träumer in seinem Leben wirklich aktiv geworden wäre?
Diese Frage erzeugt beim Träumer Gefühle, die bewusst gemacht werden müssen.

Es wird zu viel gewollt (verbissene Zielgerichtetheit) oder es wird Unrealistisches gewollt. Damit werden Misserfolge wiederholt. Das zeigt sich, durch zu viel Aktivität oder einen starren Willen, der sich nicht unterschiedlichen Situationen anpassen kann.
Frage: Was wäre geschehen, wenn der Träumer sich passiv verhalten hätte?
Diese Frage erzeugt beim Träumer Gefühle, die bewusst gemacht werden müssen.

Träumer oder Träumerin verhalten sich ambivalent. Das vorherrschende Muster ist der Zweifel.
Frage: Was wäre geschehen, wenn der Träumer eindeutig geworden wäre (entweder wirklich aktiv oder wirklich passiv oder sich wirklich für ein Ziel entschieden hätte)?
Diese Frage erzeugt beim Träumer Gefühle, die bewusst gemacht werden müssen.

Die Symbole des Traums werden einzig unter dem Blickwinkel der Möglichkeiten des Träumers / der Träumerin betrachtet. Folgende Fragen bieten sich an:

Welche möglichen Hindernisse werden mit dem Symbol dem Träumer / der Träumerin aufgezeigt?

Inwiefern könnten sich im Symbol mögliche Lösungswege und Potenziale erkennen lassen?
Welche Potenziale entwickelte der Träumer / die Träumern bei ihrer bisherigen Entwicklung zu wenig? Was sollten sie in der momentanen Situation verstärkt beachten?

Liegt der Schwerpunkt der Bedeutung des Symbols mehr bei den Möglichkeiten oder verstärkt bei den Blockaden? Je nachdem sollte der Träumer / die Träumerin verstärkt nach den entgegengesetzten Interpretationen suchen.

Ebene 2a der Traumdeutung: Begegnung mit dem Du (Persönlichkeitsentwicklung)

Da jeder Traum auf unser Beziehungsleben und unsere Kommunikation mit anderen reagiert, lautet die grundsätzliche Frage: Welche Erkenntnisse in bezug auf meine Beziehungen kann ich durch den Traum erhalten?

Dabei dreht es sich sowohl um

die Kommunikation und Beziehung unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile in mir (intrapsychische Kommunikation bzw. Beziehung von Persönlichkeitsanteilen zueinander),

als auch um die Kommunikation und die Beziehung zu anderen Menschen (das Du im Sinne M. Bubers)

Es ist davon auszugehen, dass die intrapsychische Kommunikation und die Beziehungen unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile (Introjekte) zueinander sich in den realen Beziehungen und der Alltagskommunikation wiederspiegeln und umgekehrt. Der Fokus liegt auf dem Erkennen der Parallelen des Status quo mit der Vergangenheit des Träumers und den damit verbundenen Erfahrungen (Musterwiederholungen). So wird die Genese des jetzigen Montagepunkts deutlich, der als einer unter vielen möglichen erkannt werden kann.

Mit folgenden Fragen gehe ich an den Traum heran:

 

Intrapsychisch
Welche Persönlichkeitsanteile von mir widerspiegeln Personen meines früheren Umfelds?
Gehen diese unterschiedlichen Anteile ähnlich miteinander um, wie früher diese Personen miteinander umgegangen sind?

reale Beziehungen
Inwiefern wiederhole ich in meinen realen Beziehungen alte Beziehungen aus meiner Vergangenheit?

Unter dem Fokus dieser Fragen werden die folgenden Schritte durchgeführt.

Auswahl der Symbole
Welche Symbole scheinen geeignet, dem Träumer / der Träumerin eine Antwort auf ihre Fragen zu geben?

Assoziationen zu den Symbolen
Welche Assoziationen sind hilfreich bezüglich der Antwort auf die Frage der Träumerin / des Träumers und welche nicht?

Interpretation
Geben die Interpretationen eine Antwort auf die grundlegende Frage an den Traum? Wehren der Träumer oder die Träumerin durch ihre Interpretation eine konstruktive Antwort des Traums ab?
Erhalten die Interpretationen wirklich neue Erkenntnisse oder handelt sich um Schein-Erkenntnisse?

Betrachtung des gesamten Traumes unter dem neuen Blickwinkel
Führt die Betrachtung unter diesem neuen Blickwinkel zu Evidenzerlebnissen?

Ebene 2b: Begegnung mit dem Du (Potenzialförderung)

Die grundlegende Frage bei dieser Ausrichtung des Erkenntnisinteresses lautet: Welche Einsichten bezüglich des Umsetzens von Möglichkeiten in der Kommunikation mit dem anderen kann der Träumer / die Träumerin durch den Traum erhalten?

Der Fokus liegt erstens:

  • auf dem Erkennen von Parallelen bezüglich möglicher Potenziale bei den Eltern (und anderen wesentlichen Personen in ihrem Leben) und bei dem Träumer. Wie und aus welchen Gründen wurden diese bisher von dem/der Träumer/in abgewehrt? Wird hier ein Muster deutlich?
  • auf dem Erkennen neuer Potenziale und Möglichkeiten, die womöglich in der Familie (oder anderen Bezugsgruppen des Träumers oder der Träumerin) abgewehrt wurden oder durch die Entwicklung oder spezielle genetische Veranlagung beim Träumenden vorhanden sind.

Wir betrachten zunächst die Beziehung der einzelnen Symbole oder Symbolgruppen zueinander. In diesen spiegeln sich einerseits die Hindernisse, andererseits die Lösungsmöglichkeiten wider.

Die einzelnen Symbole werden betrachtet unter der Polarität Potenzial – Hindernis. Beide Pole sind jeweils in den einzelnen Symbolen verstärkt oder weniger ausgeprägt vorhanden.

Bildung von Symbolgruppen: (Potenziale – Hindernisse [Blockaden])

Die Symbole werden unter dem Aspekt betrachtet, inwiefern die Symbolgruppen Potenziale oder Blockaden symbolisieren. Sie zeigen die Gegensätze (Ambivalenz) auf, die bezüglich der Fragestellung bestehen.

Frage: Kann ich ein Symbol finden, das die Gegensätze vereinigt?

Blau

Blau
Blau wie ein Veilchen am blauen Montag

 

Blaue Augen, Himmelsstern,
lieben und poussieren gern.

 
Blau ist die Farbe des Unendlichen, des Himmels und des Ozeans. Blau ist so differenziert wie der blaue Himmel und kann uns deswegen in unsere Emotionen führen. Blau zieht nach innen, wie die blaue Blume, das Symbol der Romantik, zeigt. Blau ist Weiblichkeit. Es weist auf das ewig Beständige. So zeigte sich Gott, als er den Bund mit seinem Volk geschlossen hat, auf Saphirplatten auf dem Berg Sinai stehend. Das erinnert an Zeus, der im Kampf zwischen Himmel und Erde mit beiden Füßen fest auf dem blauen Azur stand.

Die alchemistischen Vorstellungen des 14. Jahrhunderts kennen eine blaue Flüssigkeit, die tincturaoder das aqua permanens, die wie die Seele und der Himmel unzerstörbar sind. Es handelt sich um das heilige Wasser, ich würde sagen: um das geläuterte Gefühl. In der Terminologie C.G. Jungs steht die tinctura für die Anima.

Blau ist das Unerwartete, das Unbewusste, das Geheimnis. Das zeigt sich bei Ausdrücken wie „ins Blaue hinein“, „die Fahrt ins Blaue“ und im Englischen „out of the blue“. Blau ist so geheimnisvoll, dass selbst die Etymologie des Worts nicht endgültig geklärt ist.

Blaue Gegenstände wechseln häufig ihren Farbcharakter, wie die blauen Augen, der blaue Himmel, das blaue Meer, blutunterlaufende Körperstellen und das Blau der Flamme.
Nachtszenen in Schwarz-Weiß-Stummfilmen wurden am Tag gedreht. Die Kopien färbte man später blau ein, womit das beste Ergebnis erzielt wurde.
Die Dunkelheit wirkt im Blau. Sie lädt ein, sich zurückzuziehen und bietet dazu einen Raum an.

 

Symbolik

Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen ins Unendliche, weckt in ihm Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem.

Wassily Kandinsky

 

Das Farbwort „Blau“ bezeichnet ein erstaunliches Farbspektrum, größer als bei jeder anderen Farbe: vom hellen Blau als Farbe von Eis und Wasser bis zum dunklen Blau der Nacht. Blau besitzt eine große Farbreichweite. Es ist sowohl dem Schwarz und der Finsternis als auch dem Weiß und dem Lichten verwandt. Es kann dem Hellen und Dunkeln zugleich als wesensgleich angesehen werden. Es ist der Nacht und der Luft des lichten Tages zu eigen. So gesehen ist Blau weniger eine Farbe als ein Zustand des Lichts. Deswegen kennen viele indogermanische Sprachen kein Farbwort für Blau.

Blau steht für Tradition. Es ist die Farbe der konservativen Parteien. Blau symbolisiert Treue und Beständigkeit. In der Kleidung soll es Besonnenheit, Nüchternheit und Zurückhaltung zeigen. Darum sind die Uniformen von Militär und Polizei häufig blau. Presbyterianer werden wegen der blauen Kleidung ihrer Pfarrer blueskins genannt.

Blau ist die Farbe der Einbildungskraft, sowohl der Fantasie als auch der Illusion. Blau vernebelt und das besonders die blauen Jungs, die bei ihrem Landgang oft blau sind und blau machen.
Mögen diese Assoziationen zu Blau weitere Ideen zu dieser geheimnisvollen Farbe in Ihnen auslösen.

Schwarz

Das jenseitige Schwarz
(bilingual blogpost about WHITE, BLACK, GREY, zweisprachiger Blogartikel zu SCHWARZ, WEISS, GRAU > click here)

Von weiblicher Finsternis und männlichem Licht

Ist Schwarz überhaupt eine Farbe?
Für van Gogh war es eine Farbe wie jede andere. Die Impressionisten dagegen lehnten Schwarz als Farbe ab, da es Abwesenheit von Licht sei und in der Natur in reiner Form nicht vorkomme.
Schwarz gehört nicht zu den Lieblingsfarben der Mitteleuropäer. Gerade sieben Prozent bezeichnen es als ihre Lieblingsfarbe. Landläufig wird diese Farbe also abgelehnt. Das war nicht immer so. Erst mit dem Aufkommen der Lichtreligionen – besonders mit der Zarathustras in Persien – wird das Schwarze dämonisiert. Warum? Weil sich mit den Lichtreligionen das Patriarchat durchsetzt, das seinen Gott oben in der Sonne fand. Das Männliche schaut himmelwärts. Sein Ideal ist der Geist. Es ist typisch für patriarchale Religionen, dass das männliche Licht phallisch und erkennend zugleich in das Schwarz der weiblichen Finsternis eindringt. In diesem Denken wird Erkenntnis als Helligkeit erlebt. Die vom weiblichen Geist geprägten Religionen schauten stets nach unten auf die Erde. In den Ländern der Anfänge unserer Kultur wie Mesopotamien und Ägypten brachte die Erde als schwarzer Flussschlamm Fruchtbarkeit und Leben. Alles Leben wächst in der Dunkelheit heran. Deswegen war Schwarz die Farbe des Weiblichen und des neuen Lebens.
Schwarz ist auch die Farbe des Chaos (da man in der Finsternis nichts unterscheiden kann – dort herrscht tohuwabohu, wie in der Bibel das wüste Chaos der Finsternis bezeichnet wird), von dem das I Ging sagt, dass es die Mutter aller Dinge ist.
Dem Weiblichen ist die schwarze Nacht zugeordnet, dem Männlichen der Tag. Damit wird das Schwarze zugleich mit dem passiven Hingebungsvollen assoziiert. Das Schwarze ist aber auch das verschlingende Weibliche, das Unbewusste und das Geheimnis, vor dem das Männliche sich ängstigt und es daher dämonisiert. Schwarz ist die weibliche Anderswelt, in der Männliches sich fürchtet, zu versinken und sich aufzulösen. Es ist das Unbestimmte und Sanfte, das dem aggressiven Licht gleißend entgegensteht. Es ist das bergende Dunkel.
In weiblicher Geste umfasst Schwarz alles. In ihm ist die Ganzheit aller Flächenfarben präsent. Bei der subtraktiven Mischung mischen sich alle Farben zu Schwarz (da allerdings die Pigmente meist nicht eine absolute Farbreinheit besitzen, mischen sie sich in der Realität zu einem Braunton).

Der schwarze Tod

Als William Turners Freund und Künstlerkollege Sir David Wilkie 1841 starb, malte Turner eines seiner berühmtesten Bilder „Frieden, Bestattung zur See.“ In diesem Bild hätte Turner, wie er es selbst bekannte, gern ein Schwarz verwandt, das noch schwärzer ist als das schwärzeste Schwarz. Mit diesem Schwarz wollte Turner seine Trauer ausdrücken.
Schwarz ist die Farbe des Todes: Die Trauerkleidung ist schwarz wie tote Zähne und verfaultes Fleisch der Pesttoten. Rudolf Steiner sieht im Schwarz das Lebensfremde. Schwarz ist die Nacht, die Zeit, in der das Licht gestorben ist. Es ist der Urzustand, die Zeit vor dem Licht.
Zudem wird der Tod mit geschlossenen Augen verbunden. So verwundert es nicht, dass bei den Babyloniern, Phöniziern und Griechen die Unterwelt schwarz oder dunkelgrau gedacht wurde. Doch dieser Raum besitzt einen Funken Licht, denn dort leben die Schatten. Das Schwarz wird erst lebendig, wenn es vom Licht berührt wird. Schwarz wirkt am besten im Kontrast zum Weiß – was die Popart ausgiebig nutzte.
Die schwarze Szene liebt es finster: Gruftis, SMler, Anarchisten, Leder- und Latexfetischisten drücken mit Schwarz Ihren Flirt mit dem Tod aus. Auch die SS und spanischen Faschisten trugen Schwarz – allerdings ist es ebenfalls die Symbolfarbe der Anarchisten. Schwarz wird als Farbe der Macht und des Todes präsentiert. Mit Macht und Tod sind wir bei der Gottesvorstellung: Gott als autoritärer Herrscher über Leben und Tod.

Weltanschauungen

Schwarz ist eine abstrakte Farbe wie alle unbunten Farben. Für Piet Mondrian und die niederländische Künstlergruppe de Stijl ist Schwarz wie Weiß: Ausdruck des leeren Raums. Jasper Johns und Roy Lichtenstein benutzen Schwarz als Grenze. Aus dieser Sicht ist es verständlich, dass es sich als Farbe für abstrakte Ideen und Religionen anbietet – zumal die Religion dem Geheimnis und Unbewussten verbunden ist. Schwarz tritt uns im weltanschaulichen Bereich als heilige und somit autoritäre und absolute Farbe entgegen. Sie ist die archetypische Farbe für das Geheimnis, mit dem die mystischen Bewegungen innerhalb der Religionen ringen.

Ägyptisch
Mnevis, der von den Ägyptern in Heliopolis verehrte schwarze Stier, galt als die Verkörperung des Sonnengottes Re. Zunächst fällt auf, dass Schwarz in diesem Fall der Sonne verbunden ist. Die Sonne ist schwarz als Geheimnis allen Lebens, als Ursprung unseres Kosmos. Hier wird die Kraft der Ausstrahlung der Farbe Schwarz betont, die uns heute bei der Betrachtung der Black Box der modernen Physik wieder begegnet (Emissionstheorie Planks, 1900)

Islamisch/sufisch
„Stirb bevor Du stirbst“ heißt es bei den Sufis. Man wird aufgefordert, sein Ego sterben zu lassen und der Welt eine Absage zu erteilen. Diese Haltung drückt sich in der schwarzen Farbe der Gewänder islamischer Geistlicher und Mystiker aus. Sie sagt: „Die Welt ist tot für mich.“ Die islamischen Geistlichen und Mystiker tragen in Schwarz ihre Abgewandtheit von der Welt zur Schau. Allerdings gibt es noch eine tiefere Ebene dieser Symbolik: Als Erfassung der reinen Essenz – d.h. die selige Auflösung in Gott – gilt das schwarze Licht. Die Erfahrung dieses Lichts gilt als Ziel eines gottgefälligen Lebens und der mystischen Suche.

Christlich/jüdisch
Schwarz ist die Farbe reformierter Geistlichkeit. Luther trug einen schwarzen Talar, womit die auf das Wort beruhende Intellektualität ausgedrückt werden sollte. Schwarz ist Ordensfarbe und Lieblingsfarbe des Outfits der Kirchgänger. Bereits die orthodoxen Juden und Rabbiner pflegen sich in schwarzer Kleidung zu zeigen.
Im patriarchalisch geprägten Christentum ist Schwarz eine Farbe des Weiblichen. Maria wurde grundsätzlich am Samstag, dem Tag des schwarzen Saturn speziell verehrt. Maria Magdalena wurde als die schwarze Geliebte Jesu bezeichnet. Ferner spielen in der katholischen Kirche die schwarzen, wundertätigen Madonnen wie die von Einsiedeln, Tongeren und Tschenstochau eine wesentliche Rolle. 1277 wurde vom Papst angeordnet, diese weiß zu streichen. Begründung: Das Schwarz käme durch den Ruß der Kerzen zustande und würde die Marienbilder entehren. Die Wunder hörten auf. Die weiße Farbe wurde entfernt oder die Madonnen wieder schwarz umgestrichen, die Kirchenkassen wurden von den Pilgern wieder gefüllt.
Die schwarzen Madonnen gehen auf heidnische Vorbilder wie Isis, Kybele und Diana zurück. Die schwarze Isis war besonders verbreitet und einflussreich. Sie bot das Modell für die Madonna mit Kind.
Schwarze Madonnen finden sich in unseren Breiten hauptsächlich im Gebiet der Maas, ein Gebiet, von dem aus die Merowinger herrschten, die Anhänger der Isis waren.
Für die christliche Kirche war Schwarz jedoch auch die Symbolfarbe des Bösen und wurde somit zur klassischen Farbe des Teufels. Die Dämonisierung der Farbe Schwarz verstärkte sich mit der Verbreitung des Lilith-Kults durch spanische Kabbalisten im 13. Jh. Lilith, die erste Frau, ist die schwarze Göttin der Kabbalisten – sie ist die Frau, die es ablehnt, sich dem Mann zu unterwerfen.

Im christlich beeinflussten Kult des Vodoo spielt wie in allen zaubrisch-mystischen Kulten die Farbe Schwarz eine wichtige Rolle. Normalerweise trägt die Vodoo-Priesterin in Westafrika Weiß, werden jedoch besonders mächtige Energien angerufen, greift sie zum schwarzen Gewandt. Sie wird so zum Geheimnis und zur mächtigen Lenkerin der Energien.

Hinduistisch
Die Hindus verehren eine wilde weibliche Gottheit, die stets mit schwarzem Körper dargestellt wird. Es ist Kali, eine Verkörperung des verschlingenden und gebärenden Weiblichen. Sie ist die fruchtbare und furchtbare Mutter zugleich. Ihre tödliche Seite wird mit der Farbe Schwarz genauso verdeutlicht, wie ihre Weiblichkeit. Aber Kali ist nicht nur die Schwarze, sie wird stets mit roten Accessoires dargestellt, die ihre Lebenskraft betonen. Diese Verbindung von Schwarz mit Rot finden wir häufig als Symbolfarbe des Dämonischen. Sie ist konventionell bei Teufelsbildern und Bildern von fragwürdigen Frauen. In feministischen Kreisen wird diese Farbkombination als Farben der großen Göttin auf Voll- und Neumond bezogen.

Buddhistisch
Buddhistische Thankas (Rollbilder) mit schwarzem Hintergrund gehören zu den mystisch-esoterischen Meditationsbildern. Sie sind für den fortgeschrittenen Meditierenden geeignet. Im Buddhismus symbolisiert Schwarz die Farbe des Hasses, der durch die Weisheit in „die Vollkommenheit der letzten Wirklichkeit“ verwandelt wird. Schwarz kündet vom Bevorstehen des Absoluten, es ist die Schwelle der Erfahrbarkeit und des Todes. Es geht bei der Meditation auf schwarze Thankas um die Überwindung alles Bösen.
Yamantaka, die archetypische Gottheit der Gelugpas, der Überwinder des Todes, wird schwarz dargestellt. Er repräsentiert sowohl höchste Weisheit, als auch den Triumph über das Leiden. Er haftet nicht mehr an. Er gilt als machtvoller Beschützer. Die Beschützer Mahakala und Pälden Lamo (die weibliche Schutzgottheit Lhasas und des Dalai Lama) werden ebenfalls schwarz dargestellt, denn Schwarz steht für die letzte Realität, die Leerheit und somit für die Meditation.

Weiss

Weiss
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Die Farbe zwischen Unschuld und Wollust

Weiß als abstrakte Farbe
Weiß ist Farbe des Lichts, der Reinheit, des Ideals und somit des Abstrakten.
Nach Goethes Farbenlehre stellt Weiß die Trübe dar, durch die das Auge des Beobachters auf Licht und Finsternis schaut, um so die Regenbogenfarben zu erblicken. Weiß steht über den Farben, es stellt eine Metafarbe dar. Das zeigt sich darin, dass sich alle Lichtfarben zu weiß mischen.
Das Abstrakte der Farbe Weiß zeigt sich ferner an der geringen Farbreichweite von Weiß: Wird in Weiß ein wenig einer anderen Farbe eingemischt, verliert es seinen Farbcharakter. Keine andere Farbe besitzt eine derart geringe Farbreichweite, keine andere Farbe beschmutzt sich derart schnell.

Weiß ist das technisch Reine und das Coole. Die Sucht, angesichts der ökologischen Krise alles sauber zu machen, ist verständlich – aber natürlich ist Weiß synthetisch. Das weiße Mehl, der weiße Zucker und das berüchtigte Weißbrot gehören nicht gerade zu den gesunden Lebensmitteln. Die gereinigten Drogen sind diejenigen, die hochgradig süchtig machen wie Heroin und Kokain, das bezeichnenderweise als Schnee bezeichnet wird. Der Trip wird dann white horses genannt, die Entzugserscheinungen white turkey.
Weißes Papier gefährdet unsere Flüsse und die großen Weißmacher, die Waschmittel erst recht. Aber wir haben eine weiße Weste, denn Herr und Frau Saubermann bemühen sich wacker um Reinheit.

Psychologie von Weiß
Reinigung
Weiß symbolisiert häufig einen Neuanfang. Man reinigt sich von der Vergangenheit. Dieser Reinigungsdrang erzeugt eine Weißbesessenheit – die Weißwäscher, über die sich Bert Brecht in „Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher“ lustig machte. Die Waschmittelwerbung nimmt dagegen das weißeste Weiß bis zur Lächerlichkeit ernst. Die gute Hausfrau ist rein, fürchterlich steril, und es verwundert nicht, dass sie keiner begehrt und sie sich in ihrer Frustration noch extremer der Reinheit zuwendet. So viel Reinheit hält keiner aus. Zu makellos weiß ist unmenschlich und unnatürlich, da bleibt kein Platz für die Lust.

Kalter Intellekt
Weiß wurde von Aubrey Beardsley im Jugendstil und Louis Meyer geliebt. Letzterer eröffnete seine Schwarz-Weiss-Gallerie 1897. Es war die Obzession der Viktorianer alles weiß und rein zu machen, aber auch der Ausdruck ihres distanzierten kalten Intellekts. Freilich drückt Weiß Klarheit aus, aber eine beängstigend unmenschliche Klarheit, eine Abstraktion und keineswegs das blühende Leben. Das Leben ist bunt, der Tod ist weiß wie die gebleichten Knochen.

Vergeistigung
Das weiße Einhorn, ein altes Symbol des männlichen Geistes, wird durch die weiß dargestellte Jungfrau angelockt, in deren Schoß es sein Horn legt. Dieses Einlassen auf das Jungfräuliche wird dem männlichen Geist zum Verhängnis. Das Einhorn wird getötet – meist um seines Hornes willen, dem man magische Stärke zusprach.
Weiße Vögel stehen für Vergeistigung, wie die weiße Taube, die ursprünglich Sophia, die griechische Göttin der Weisheit, symbolisierte.
Um den Geistcharakter der Farbe Weiß weiß die deutsche Sprache, in der das Wort „Weisheit“ etymologisch auf den Farbbegriff „weiß“ zurückgeht.

Weiß und Sex
Alles wird fürchterlich hygienisch. Nach Freud leben wir in einer hochgradig analfixierten Gesellschaft, die nichts mehr als den Schmutz bekämpft. Schmutzig ist das Natürliche, der Sex, die Körperausscheidungen. Ich erinnere an das erfrischende Interview mit Madonna, in dem sie gefragt wird, ob Sex schmutzig sei. Ihre geniale Antwort: „Nur wenn man sich nicht wäscht!“ Woody Allen übernahm dieses Bonmot.
Der japanische Modedesigner Issey Miyake ist einer der ersten, die Weiß als Modefarbe propagieren. 1999 kreiert er den aufsehenerregenden Ärzte-Look und argumentiert: Weiß ist männliche Autorität. Schon Freud erwähnte die sexy sexlosen Ärzte, welche die einzigen in unserer Gesellschaft sind, die andere sich ausziehen lassen dürfen, die aber im Stil der Zeit völlig clean bleiben. Wie in der Peep-Show und beim Table Dance lautet die Devise: betrachten, aber die Objekte des Begehrens nicht berühren.
70% der deutschen Bevölkerung empfinden Weiß als die perfekte Farbe für Dessous (immerhin tragen über 60% der Frauen zwischen 16-29 erotische Unterwäsche), denn Weiß zieht die Aufmerksamkeit in den Bann. Es zieht den Blick auf die Stellen des Begehrens. Weiß ist das engelhafte, unschuldig Reine, das man verführt und somit von der Reinheit befreit.
Die weißen Brüste wurden im Hoch-Mittelalter an dem Liebeshöfen Aquitaniens besungen, wo die Sexualität kultiviert werden sollte und zur gleichen Zeit galt der weiße Samen als der gute und fruchtbare Samen, der starke und gesunde Kinder zeugt. Die weiße Haut galt bis weit in die Neuzeit hinein als die reine Haut, die erotisiert wurde. Sie war stets verhüllt und gab sich nur den Blicken der Auserwählten preis. Das hat sich freilich im 20. Jahrhundert geändert, als im dialektischen Prozess gerade die dunkle Haut erotisiert wurde. Das Wilde wurde verständlicherweise dem Keuschen vorgezogen. Heutzutage ändert sich die Einstellung zur weißen Haut wieder. Die neue Prüderie, die aus den USA Europa heimsucht, wie die Ozonlöcher lassen die weiße Haut wieder zum Objekt der Begierde werde.

Farbe des Todes
Weiß ist die Farbe des Todes, der Abstraktion und der Erstarrung. In Melvills Bestseller „Mobby Dick“ wird die Farbe Weiß betont und ihr ein lesenswertes Kapitel gewidmet.
Der Symbolwert von Weiß als Farbe des Todes ist vom analogen Denken her naheliegend, denn weiß ist das Gerippe und die gebleichten Knochen. Weiß ist der Schnee im Winter, wenn alles abgestorben ist.
Im Aberglauben und der Magie sind es die weißen Tiere und weiße Blütenblätter, die den Tod ankündigen. Weiße Blütenblätter bei Blumen im Garten sollen gemäß des Volksglaubens den Tod eines nahen Verwandten ankündigen.

männliches Weiß
Dass Weiß in unserem Kulturbereich positiv gesehen und Schwarz dämonisiert wird, hat historische Ursachen. Ursprünglich (im Matriarchat?) war Schwarz die positive Farbe, als Farbe des Unbewussten, das stets weiblich gedacht wurde. Aus dem Dunkel wächst alles Leben. In Ländern der Ursprünge unserer Kultur – Zweistromland und Ägypten – war es die brennende Sonne, die den Tod brachte. Der schwarze Schlamm der Flüsse dagegen gab Fruchtbarkeit. In diesen Kulturen wurde das Göttliche in der Erde, im Körper gesehen. Im Patriarchat, das mit den Lichtmysterien aufkam, suchte man das Göttliche im Himmel und fand es in der Sonne. Es ging um die Überwindung des Körpers und um Vergeistigung. Man blickte nach oben, die Welt verlagerte sich in den Kopf. Damit wurde Weiß positiv und Schwarz negativ bewertet, worin sich eine Körperfeindlichkeit ausdrückte, die bis heute die Nachfolgemythologien dieser Lichtmysterien wie das Christentum prägt, obwohl in solch einer strengen patriarchalischen Ideologie wie dem Christentum sich auch das positive Schwarze hielt in den wundertätigen schwarzen Madonnen. Als man sie im späten Mittelalter weißte, verloren sie ihre Wunderkraft, die Pilger blieben aus und angesichts des ökonomischen Verlustes wurden sie schnell wieder schwarz lackiert – worauf sich die Wundertätigkeit, die Pilger und das Geld wieder einstellte.
Autoritäten tragen gerne Weiß wie Gurus, Ärzte, Päpste und die Macht ist den USA an das Weiße Haus gebunden.

Farbe der Aggression
Weiß ist eine aggressive Farbe, die ins Auge sticht. Das liegt physiologisch am Rhodopsin-Abbau in den lichtsensiblen Zellen der Augen.
In seiner Farbgestik überstrahlt Weiß alles und lässt es größer erscheinen. Ein weißer Gegenstand wird 1/5 mal größer wahrgenommen als ein dunkler. Weiß wirkt übergriffig.
Die aggressive Seite von Weiß drückt sich auch in den Anzügen im Kampfsport aus.

weibliches Weiß
Es gibt auch ein weibliches Weiß, wenn jedoch ursprünglich die weibliche Farbe Schwarz ist. Dennoch im Hexenzauber ist Weiß wichtig. Die nährende Milch aus den weißen Brüsten prägt die weibliche Seite von Weiß.
Juno, weiße Tara, die Sibyllen, das sind die weißen Frauen und im Christentum ist es Maria, die mit der weißen Lilie dargestellt wurde, und das Schneewittchen. Dies Anima-Projektionen, die sehr intelligent von dem mit Archetypen arbeitenden deutschen Film „Rossini“ ironisiert werden.
In Japan ist Weiß die weibliche Farbe wie in unserem Kulturbereich sie die Farbe der Jungfrauen ist, weswegen ganz in weiß geheiratet wird.
Weiß ist ferner die Farbe, sich zu ergeben und sich hinzugeben. Das Jungfräuliche ergibt sich, um erwachsen zu werden und die jungfräuliche Naivität hinter sich zu lassen.

Farbe des Schutzes
Weiß schützt gegen das Wilde, das stets schwarz gedacht wird. Da Ideologien wie das Christentum mit dem Wilden haderten, wurde Weiß dem Schwarzen vorgezogen. Allerdings findet man solche Tendenzen noch in der Magie, die besagt, dass sich auf ein weißes Tuch zu stellen, unangreifbar macht, und die das Blut weißer Tiere als zauberkräftig ansieht.
Weiß verweist auf Sauberkeit und Hygiene, die vor Seuchen schützen, weswegen in Seuchengebieten in Indien Umzüge mit weißen Fahnen veranstaltet werden. Und ursprünglich waren alle Pillen und Tabletten weiß.

Historischer Abschluss
Als im Mittelalter die Städte und somit das Bürgertum aufkam, waren die bunten Farben bereits durch den Adel besetzt. Er richtete sich nach der Heraldik. Das Volk trug ungefärbte Stoffe und zeigte sich in schmutzigen Naturfarben. Für das aufkommende Bürgertum blieb im Farbcode nur Schwarz und Weiß übrig, Farben, die seit dieser Zeit zumindest das mittlere Bürgertum kennzeichneten.

Rot

Rot

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Rot ist eine Farbe zwischen
Liebe und Hass
Sex und Gefahr
Elitärem und Kommunismus

Rot ist die Farbe der Liebe.
Rot ist die Farbe, die uns an der Ampel gebietet, stehen zu bleiben.

Welch ein Widerspruch! Auf der einen Seite fleht Rot: „komm zu mir!“ auf der anderen Seite sagt es: „Stop!“

Rot lässt an Krieg und Blut denken.

Rot ist eine aufregende Farbe, nach der Kinder greifen, die anzeigt, dass etwas wichtig ist und wir alle kennen den gefürchteten Rotstift. Mit dieser Farbe beginnt und endet der Tag. Abendrot und Morgenrot, mit denen Goethe in seiner Farbenlehre Rot als Naturphänomen erklärt, stehen beide an der Grenze zur Nacht. Nach der dunklen Nacht, die alle Farben auslöscht, kündigt sich das Licht mit Rot an. Am Übergang des Tages zum Dunkel der Nacht steht wieder das Rot.

Warum scheint es eine männliche Angelegenheit zu sein, mit Rot auf Kriegsfuß zu stehen? Die Rot-Grün-Blindheit als häufigste Farbenblindheit kommt bei Frauen nicht vor.

Die Einstellung zur Farbe und besonders zu Rot ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich. Den nördlichen Germanen schien die Farbe nicht so wichtig gewesen zu sein. Germanische Sprachen weisen wenig Vokabeln zum Unterscheiden von Farben auf. Im Vergleich dazu gibt es im Südpazifik schon allein eine Fülle von Wörtern für Rottöne.

Für mich ist Rot eine schwierige Farbe. Ich besitze keine rote Kleidung und habe nie ein rotes Auto gefahren. Zu auffällig, zu extrem, dachte ich. Rot kann eine Frau tragen, aber doch kein Mann! Als unruhiger Geist werde ich von Rot abgeschreckt. Rot macht mich noch unruhiger und aufgeregter – man könnte allerdings auch sagen, Rot bringt Leben in den grauen Alltag. Mich störte Rot. Es regte mich zu sehr an und stellte mich in die Mitte des Geschehens.

In einer Art Hassliebe begann ich mich mit Rot zu beschäftigen. Als Student besuchte ich ein Seminar über Farbpsychologie. Dort wurden Experimente zur Wirkung der Farben durchgeführt. Können einen Farben wirklich so erregen, wie der Volksmund es behauptet, sollte untersucht werden. In meiner Arbeitsgruppe unterlegte man einen schwierigen Text mit roter, grüner und weißer Farbe. Es zeigte sich, dass ein auf Rot gedruckter Text schwerer zu erfassen war, als wenn der gleiche Text vor Grün oder, wie es normal ist, vor Weiß erschien.

Die Erklärung für dieses Ergebnis liegt auf der Hand: Die Farbe Rot erregt so sehr das menschliche Nervensystem und zieht derart alle psychischen Energien auf sich, dass zu wenig freie Energien übrig bleiben, um den Inhalt des Textes zu erfassen. So kann die wissenschaftliche Psychologie wie so oft bestätigen, was wir bereits alle wissen: Rot regt an.

Was wirkt denn nun an der Farbe?

Es wirkt die Farbschwingung, die auch dann unzweifelhaft vorhanden ist, wenn die Farbe nicht gesehen wird. Sicherlich beeinflusst diese Farbschwingung einen mehr, wenn sie auf das offene Auge trifft, aber der menschliche Organismus scheint Farbe nicht allein mit dem Auge wahrzunehmen. Erstaunlich ist, dass das menschliche Auge nur zwanzig Prozent der Farbschwingungen wahrnimmt, die restlichen achtzig Prozent verwendet der menschliche Organismus sozusagen als Nervennahrung. Licht und somit Farben scheinen den Körper zu durchdringen. Man stellt sich das heute nach dem Prinzip der Schwingungsresonanz vor. Eine Farbe erzeugt eine Schwingung, die im Körper widerhallt. Da dem Körper diese Schwingung nicht fremd ist, kann er sich auf sie einschwingen. Das Innere des Körpers antwortet auf die äußere Farbschwingung. So wirkt die Farbe über ihre Schwingung, ohne dass man sie unbedingt sehen muss.

Stellen Sie sich vor, Sie würden der Farbe Rot zum ersten Mal begegnen. Sie wären sicher aufgeregt, denn Rot gilt in den meisten seiner Töne als aktivierende Farbe, weswegen die Schlagzeilen in den Boulevard-Zeitungen oft rot gedruckt werden (bei der BILD-Zeitung ist sogar der Zeitungsnamen im roten Feld gesetzt). Auch Kriegsnachrichten in den Zeitungen sind häufig rot gesetzt. Rot wirkt bis in die Seele wie die rote Blüte auf den Instinkt des Insekts.

Als Höhepunkt der Farben (Goethe) wirkt Rot anregend, erwärmend und belebend. Es wirkt je erregender, desto näher sein Farbton dem Scharlachrot angenähert ist.

Und über rote Dessous und die roten Laternen von Pauli will ich hier gar nicht erst schreiben.

Sprach ich eben vom belebenden bis erregenden Rot, so gibt es auch die Verbindung von Rot und Tod: Artemidor von Daldis, der eines der meistgelesenen Traumbücher vor Sigmund Freud schrieb, verbindet in seinen Traumdeutungen Rot mit dem Tod und dem Bösen. Träume böser Menschen und diejenigen mit fatalen Voraussagen wurden in seinen Texten ursprünglich rot geschrieben.

Die Inuit im Film

DIE INUIT IM FILM

Globale Erwärmung ist das Thema der Zeit. In der Presse, auf Partys, überall erhitzt sie die Gemüter. Da diese Erwärmung sich deutlich in den Polargebieten zeigt, ist der interessierte Blick der Mitteleuropäer seit dem heroischen Zeitalter der Entdecker wieder auf die Arktis und deren Bewohner gerichtet.

ARCTIC2 (auch „Polartheater“ genannt)

Wer sich über polare Erwärmung, Ozon, Meereis, die Jahreszeiten an den Polen und verwandte Themen informieren möchte, dem sei das Projekt ARCTIC2 empfohlen, das aus Satellitendaten animierte Bildfolgen erstellte. Zunächst wurde dieses ehrgeizige wie gelungene Projekt in der Ausstellung „Arktis-Antarktis“ in Bonn präsentiert und im Pavillon der Bundesrepublik Deutschland auf der EXPO 1998 in Lissabon. Seit dem Sommer 1999 ist dieses Projekt auf CD ROM zugänglich, allerdings nur als nichtkommerzielles Produkt für den Schul- und Universitätsbedarf.
Die Kältewüsten des Nordens bevölkert der mitteleuropäische Geist mit den letzten edlen Wilden, die allerdings in der Realität seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend von der Sozialhilfe leben und verelendet sind. Das kratzt jedoch wenig an dem erotisierten Bild des Inuit und dessen Exotik, zumal wenige unserer Kultur diese Menschen mit eigenen Augen in ihren Camps gesehen haben. Den Inuit trifft man heute im Film, der maßgeblich seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das idealtypische Bild des Inuit prägte. Nanook, Palo und Atanarjuat prägen unser Bild vom kühnen Jäger, der in einer Gesellschaftsform lebt, der unserer individualistischen Lebensweise diametral entgegensteht. Und wie in der Liebe beweist sich auch hier: Gegensätze ziehen sich an.

Das maßgebliche Werk über die Darstellung der Inuit im Film schrieb die Ethnologin und Alaska-Spezialistin Ann Fienup-Riordan

Ann Fienup-Riordan: Freeze Frame. Alaska Eskimos in the Movies (1995)

Dieses oft humorvoll bis ironisch geschriebene Arbeit dokumentiert die Inuit im Film von den ersten Aufnahmen der Forscher, über Hollywoodfilme bis hin zum Inuit in der heutigen Film- und Fernsehwerbung. Diese Arbeit zeigt detailliert auf, wie das Bild der Inuit, deren lächelnde Gesichter von feiner Fellkapuze umrahmt sind, in der westlichen Kultur geschaffen wurde. Neueren Datums ist der informationsreiche Aufsatz von Susanne Regener, der einen Auszug aus dem Buch „Das Gesicht im frühen Film“ ist.

Susanne Regener: Mediale Taxidermie. Vorstellungen über das Gesicht von Eskimos (2005)

Als erster filmte der Eskimologe William Thalbitzer 1906 und 1914 in Grönland, danach war es der grönländische Held Knud Rasmussen, der seine Thule-Expeditionen teilweise filmisch dokumentierte. Beide Forscher betrachteten die Grönländer mit ethnologischen Interesse für eine untergehende Kultur.
Bei den von Inuit gedrehten Kinofilmen über ihre Kultur ist es stets die schöne Frau, die das Böse verkörpert. Das folgt der Auffassung der Inuit-Männer, die mit keiner schönen Frau verheiratet sein wollen, da diese nur Verhängnis bringt, da man ständig gedrängt wird, sie auszuleihen und um sie zu kämpfen.

Das Eskimobaby, Walter Schmidthäusler D/DK 1916

Der erste Spielfilm, der sich mit der Kultur der Grönländer auseinandersetzte, wurde 1918 in Berlin gezeigt und war ein Misserfolg, obwohl die berühmte Schauspielerin Asta Nielsen in ihm nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern dieses Projekt auch finanziert hatte. Asta Nielsen tritt als Grönländerin verkleidet auf, die sich mit der mitteleuropäischen Kultur kindlich auseinandersetzt. Eine Pointe des Films ist der Forscher Knud, der diese Grönländerin Ivigtut als seine Geliebte mit nach Europa bringt. Die Anspielung auf Knud Rasmussen ist gewollt. Viele Klischees, die unser Bild der Inuit seither prägen, werden in diesem Film geprägt: Inuit küssen sich, indem ihre Nasen aneinander reiben, sie lächeln stets und schlafen auf dem Boden.

Den store Grønlandsfilm (Der große Grönlandsfilm) DK 1922, Regie: Eduard Schnedler-Sørensen.

Das dänische Original dieses Films ist verschollen. Dieser Grönlandfilm ist Knud Rasmussen gewidmet, der sich an der Filmarbeit beteiligte. Er handelt von dessen 5. Thule-Expedition und ehrt Rasmussen für die Einführung der dänischen Kultur in Grönland.

Nanook of the North (Nanook der Eskimo) USA 1922, Regie: Robert Flaherty

Ebenfalls 1922 kam der weitaus bekanntere Stummfilm „Nanook der Eskimo“ in die Kinos und wurde sogleich zu einem Riesenerfolg beim internationalen Publikum. Dies war der erste Dokumentarfilm über Inuit und überhaupt einer der ersten Dokumentarfilme, der von einem breiten Publikum gesehen und geschätzt wurde. In ihm versuchte Flaherty die Inuit so zu zeigen, wie sie sich selbst sehen. Der Regisseur dokumentiert Nanooks Leben vom Bau eines Iglus bis zur Walrossjagd. Allerdings kritisierte der zweifelhafte Polarforscher Vilhjalm Stefansson diesen Film, als völlig verfehltes Bild des Lebens der Inuit. Das liegt sicher nicht zuletzt auch daran, dass Flaherty die Kleidung der auftretenden Inuit in den USA designen ließ. Aber man darf nicht vergessen, dass zur Zeit dieses Dokumentarfilms die Inuit bereits mit Flinten jagten und Dosenfleisch aßen und zugleich in einer magischen Gedankenwelt ihrer Vorfahren lebten. Dass einige Szenen Studioaufnahmen sind, kritisierten die Puristen.
Dieser Film wurde etwa zur gleichen Zeit gedreht, als Frank Hurley am gegenüber liegenden Ende der Erde die Shackleton-Expedition filmte.
1989 war dies einer der 25 Filme, die als erhaltenswertes filmisches Kulturgut von der Library of Congress in den USA hergestellt und bewahrt wurden.
1995 wurde der Film Kabloonak gedreht, der das Filmen von Nanook of the North zum Thema hat. Ein Verwandter von Nanook spielt in diesem Film Nanook und Charles Dance spielt den Regisseur Flaherty.
Flaherty drehte 1931 zusammen F.W. Murnau „Tabu“, wobei es zu einigen Spannungen kam, da Flaherty die Dokumentation im Vordergrund sah, Murnau jedoch die Ästhetik.

Igloo, USA 1932, Regie: Ewing Scott

Ein klassischer amerikanischer Film von Universal Pictures ist „Igloo“. In ihm tritt der Inuit -Filmstar Ray Mala aus Alaska auf, der den Beinamen „Clark Gable of Alaska“ bekam. Über zwanzig Jahre lang trat Mala in Inuit-Filmen auf, in denen die einheimischen Jäger Alaskas als primitive, aber unschuldige Naturwesen dargestellt wurden. Besondere Beachtung fanden die außergewöhnlichen Fellkostüme der Protagonisten.

Palos Brudefaerd (Palos Brautfahrt) DK 1933, Knud Rasmussen, Regie: Friedrich Dalsheim

Rasmussens Interesse galt der Dokumentation und damit auch der Bewahrung der Inuit-Kultur. „Palos Brautfahrt“ ist ein einzigartiges Dokument der Kultur und Natur Grönlands mit berauschenden Naturaufnahmen in Schwarz-Weiß. Dieser Film, der auf Rasmussens 7. Thule-Expedition entstand, versucht zugleich Dokumentarfilm und Spielfilm zu sein, der mit ethnografischen Blick gefilmt wurde. Durch diese Mischung zwischen fiktiver Spielfilmhandlung und ethnografischer Arbeit schuf Rasmussen maßgeblich das Bild vom unschuldigen und zugleich unzivilisierten Grönländer, auf den der Mitteleuropäer nur zu leicht all das projizieren kann, was in der modernen Welt verloren ging. Auf diese Weise verwandelt sich der Inuit in ein Traumbild.

S.O.S. Eisberg, Regie: Arnold Fanck. D 1933. Mit Leni Riefenstahl und Ernst Udet.

Gleichzeitig mit Rasmussen und Dalsheim drehte Fanck seinen Film mit Leni Riefenstahl, über den Rasmussen die Schirmherrschaft übernahm.
Es geht um die Suche nach verschollenen Expedition. Die Suchexpedition findet die Vermissten auf einem Eisberg, von dem es kein Entkommen gibt. Der Flieger Udet tritt als Retter auf, er spielt sich in diesem Film selbst. Dieser Expeditionsfilm zeigt die lebensgefährliche Bedrohung durch die Natur Grönlands. Es ist ein Film, bei dem die Handlung unwesentlich ist. Die Images sind wichtig. Die Handlung ist nur ein Vorwand, um schöne Bilder zu zeigen. Erstaunlich ist die Häufigkeit, mit der in diesem Film die Gletscher kalben und die Geschwindigkeit, mit der Eisberge driften. „SOS Eisberg“ steht noch dem Stummfilm nahe, es wird in dem Film sparsam gesprochen. Die wenigen Dialoge wirken auf den heutigen Beschauer unnatürlich und übertrieben.

Eskimo, USA 1933, Regie: Louis B. Mayer

Dieser Hollywood-Film wurde in Alaska gedreht und basiert auf Erzählungen von Peter Freuchen, der auch selbst in diesem Film mitspielt. Die meisten anderen Darsteller sind Inuit, die sich selbst spielen. Berühmt wurde der Inupiat-Inuit Ray Mala, der durch diesen Film zu einem internationalen Star wurde. Dies war der erste Film, der 1934 einen Oscar für den besten Schnitt bekam (best film editing).

Qivitok – Fjeldgægeren („Qivitok – Der in die Berge geht“) DK 1956, Regie: Erik Balling

Dieser Film stellt die „sanfte Kolonisierung“ Grönlands in positiven Licht dar und wirbt um Verständnis für die dänische „Entwicklungshilfe“ dort. Der damals berühmte dänische Schauspieler Poul Reichardt spielt die Hauptrolle, nämlich Jens Lauritzen, der die Kolonie auf Grönland leitet. Die von ihm „verwalteten“ Grönländer werden als naturnah dargestellt und bilden das Gegenbild zu der hoch neurotischen Eva, einer Frau aus der Großstadt, die am Schluss in der Natur gesundet.

Savage Innocents, USA 1960, Regie: Nicholas Ray

Anthony Quinn spielt in diesem typisch amerikanischen Paramount-Film einen kindlichen Inuit. Obwohl der Regisseur Ray behauptete, ausgiebig für diesen Film recherchiert zu haben, stellt er alle Klischees über die Inuit unreflektiert und das noch ohne Inuit-Darsteller dar. Außerdem ähnelt der Film in Vielem seinem Vorgänger „Das Eskimobaby“ und idealisiert wie dieser die Naturnähe der Inuit. Nicht nur dass alle Darsteller bis zur unfreiwilligen Komik schlecht spielen, sondern auch die Musik ist völlig unpassend. Der gesamte Film wirkt grotesk lächerlich.

Netsilik Eskimo Film Series, Kanada 1966, Regie: Quentin Brown

Diese Filmserie, die mit der wissenschaftlichen Beratung des Ethnologen Asen Balikci/Universität Montreal entstand, zeigt das Alltagsleben der traditionell lebenden Netsilik-Inuit in der kanadischen Arktis. Diese Filmserie war lange Zeit die bekannteste Dokumentation des traditionellen Inuit-Lebens. Diese Lebensart war allerdings bereits untergegangen und die Netsilik-Darsteller spielten die alten Lebensformen nach.

Ernenek wird Europäer, Regie: Hans Joachim Kürtz. BRD 1969

Dieser kurze Film von 45 Minuten entstand im Auftrag des ZDF, um den gesellschaftlichen Wandel von der alten Gesellschaft grönländischer Fänger zu der modernen Wohlstandsgesellschaft nach dänischen Vorbild zu dokumentieren. Die hier angedeuteten sozialen Probleme, die dieser radikale Wandel mit sich brachte, wirken noch bis heute fort.

Atanarjuat (The Fast Runner), Regie: Zacharias Kunuk. Kanada 2000

Dieser erste Film, der in Inuktitut gedreht wurde, bekam zu recht viele Auszeichnungen wie z.B. die Camera d`Or in Cannes 2002. Er geht auf eine etwa 4000 Jahre alte mündliche Überlieferung zurück, die nie niedergeschrieben wurde. Der Film macht den alten Mythos von Zwist und Betrug wieder lebendig. Fast wie in einem Drama Shakespeares gibt es unerwartete Wendungen, Mord und Eifersucht. Er besticht durch schöne Bilder und ist ausgesprochen einfühlsam gedreht. Durch die realistische Dokumentation der Inuitwelt, ist er uns fremd und dadurch nicht leicht verständlich. Es gibt Anklänge an Rasmussens Film sowohl von der Story, als auch vom Ziel her, eine untergehende Kultur zu dokumentieren.

Sieben Lieder aus der Tundra, Finnland 2000, Regie: Anastasia Lapsui

Dies ist der einzige mir bekannte Spielfilm über das Leben der Nenets, der auch in der Sprache dieses Volkes gedreht wurde, das an der arktischen Küste Russlands lebt. Die Regisseurin, die auch das Buch des Films schrieb, ist selbst eine Nenet. Der Film zeigt sowohl Rituale dieser Tundra-Nomaden wie auch deren Unterdrückung durch sowjetische Kommissare. Hervorzuheben sind die beeindruckenden Landschaftsaufnahmen.

„Frozen Heart“ Regie: Stig Andersen und Kenny Sanders, Norwegen 2001

Die Amundsen-Biografie von Tor Bomann-Larsen: Amundsen (Hamburg 2007)bot die Grundlage zu diesem norwegischen Dokumentarfilm, der aus alten schwarz-weiß-Filmen über Amundsen geschickt zusammengestellt wurde.

Minik, Regie: Axel Engstfeld. D 2005

Dies ist die Geschichte von fünf Inuit, die 1897 der Arktisforscher Robert Peary von einer Grönlandexpedition nach New York brachte. Das American Museum of Natural History (anthropologische Abteilung) hatte die Inuit bei ihm bestellt. Nach kurzer Zeit sterben vier der Inuit, nur Minik überlebt und bleibt noch zwölf Jahre in den USA. Engstfeld schildert die wahre Geschichte, wie ein Mensch zum Museumsexponat wird. Beim Recherchieren und Filmen wurden ihm und seinem Team viel Schwierigkeiten bereitet. Nur ein einziger Wissenschaftler im heutigen American Museum of Natural History war bereit, über dieses wenig rühmliche Kapitel der Wissenschaftsgeschichte zu sprechen.

Before tomorrow. Regie: Marie-Hélène Cosineau und Madeline Ivalu, Kanada 2008

Dies ist die Verfilmung des ergreifenden Buchs von Jørn Riel: Vor dem Morgen (Zürich 2007), in dem er den Niedergang einer Inuit-Siedlung und Gruppe auf Grönland schildert. Die Handlung spielt in der Mitte des 19. Jahrhundert.

The Journals of Knud Rasmussen, Kanada 2008, Regie: Zacharias Kunuk, Norman Cohn

Der Film spielt 1922/3 und zeigt den gerade vom Christentum beeinflussten Schamanen Avva, der von Knud Rasmussen und Peter Freuchen besucht wird und seine Geschichte und die seiner Frau erzählt.

Anhang

Die Samen im Film

Wenn von den Samen im Film die Rede ist, fällt stets sogleich der Name Nils Gaup, einem norwegischen Regisseur, der selbst samischer Abstammung ist.

Veiviseren, Norwegen 1988, Regie: Nils Gaup

Ofelas/Veiviseren – zu Deutsch „Die Rache des Pfadfinders“ (liegt in deutscher Synchronisation bislang nur als Fernsehversion vor) – war Gaups erster Spielfilm über den Kampf zwischen den marodierenden Tschuden und den Samen. Die spannende und zugleich teilweise grausame Verfilmung einer Legende war ein großer internationaler Erfolg, was zu seiner Oscar-Nominierung führte. Er besticht durch die einfache Storyführung und durch atemberaubende Naturaufnahmen.

The Kautokeino Rebellion, Norwegen 2008, Nils Gaup

Katokeinoopproret (Die Kautokeino Rebellion) liegt mit deutschen Untertitel vor. Es die Geschichte der Unterdrückung der Samen durch die norwegischen Vertreter von Staat und Kirche. Der Film geht von dem Aufstand der Samen 1852 in Nord-Norwegen aus, der mit aller Härte niedergeschlagen wurde. Aslak Hætta, der Anführer dieses Aufstands, dessen Nachfahre der Regisseur Gaup ist, wurde nach der Niederlage hingerichtet.
Wie schon bei „Die Rache des Pfadfinders“ wurde dieses dunkle Kapitel der norwegischen Herrschaft im Norden äußerst realistisch an Originalschauplätzen gefilmt. Besetzt wurden die Rollen mit der ersten Riege der skandinavischen Schauspieler.
Dieses Kapitel der samischen Geschichte wurde bereits 1998 in dem norwegisch-finnischen Dokumentarfilm „Gebt uns unsere Skelette“ von dem Regisseur Paul-Anders Simmers behandelt und bei den nordischen Filmtagen in Lübeck mit preisgekrönt.

© Klausbernd Vollmar, Cley/Norfolk/UK 2018
Die in diesem Essay erarbeiteten Gedanken sind geistiges Eigentum des Autors Klausbernd Vollmar und unterliegen den geltenden Urheberrechtsgesetzen. Die ganze oder teilweise Vervielfältigung sowie jede Weitergabe an Dritte ist nicht gestattet

Der Norden in der Literatur

DER NORDEN IN DER LITERATUR

“Es sind schon Männer berühmt geworden, weil sie ein Fachgebiet gemeistert haben, dessen Bedeutung von ihren Zeitgenossen noch nicht erkannt worden war. Und ich habe die Literatur über die Arktis gemeistert.”

Andrea Barrett, Jenseits des Nordmeers

 Der Norden gleicht einer gestaltwandlerischen Frau, die den männlichen Geist mit ihren vielen Gesichtern verführt.
Lese ich über den Norden, verblüfft mich, wie unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten der Norden gesehen wurde. Für die alten Griechen war er der unbesuchte Ort, der Paradiesvorstellungen anzog. Als kühne Seefahrer den Rand des Nordens berührten, schlug diese Sicht ins Gegenteil um. Der Norden wurde zur Hölle, zum gefährlichen Ort, der Menschen verschlingt. Der französische Seefahrer Jacques Cartier bezeichnete noch 1534 die arktischen Gefilde als das Land, das Gott Kain zugedacht hat. Als Ort der Extreme provoziert der Norden extreme Sichtweisen: entweder wird er zum gelobten Paradies oder zur menschenfeindliche Hölle.
Als die ersten Schiffe in den hohen Norden vorstießen, war es die Ausbeutung dieser jungfräulichen Gegend, die raue Burschen aus südlicheren Gefilden anzog. Ihr Blick war von ökonomischer Gier geprägt. Die Menschheit erlebte ihren ersten Ölboom, der mit gnadenlosem Abschlachten der Wale und stinkenden Tranküchen die weltferne Arktis vergewaltigte. Als die Säuger des Meeres abgeschlachtet waren, folgte mit den Trappern die systematische Dezimierung der Säuger des Landes. Im 19. Jahrhundert bis nach der Eroberung der Pole, war die Arktis das Land, in dem sich echte Kerle bewährten. Sie wurden als die ersten beschrieben, welche die Eiswüsten bezwangen und froh waren, nach ihren Eroberungen schnell wieder nach Hause zu kommen. Zugleich begann man zaghaft gegen Mitte des 19. Jahrhunderts sich für die Bewohner der Arktis zu interessieren und aus wissenschaftlichen Interesse den Norden zu bereisen.
Alle diese Betrachtungsweisen leben in unserem heutigen Bild des Nordens fort. Sie finden ihren Niederschlag im Literarischen und den Sachbüchern über die Arktis, die seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als idealisierter Ort der letzten Wildnis “in” ist. Selbst die moderne Werbung nutzt die Faszination der Polargebiete, wenn sie textet: “Peary entdeckte den Nordpol, Amundsen den Südpol. Und ich bin die offizielle Entdeckerin des Ruhepols” (Werbung für die Zeitschrift “mein schöner Garten”, Juni 2008).

In der Wahrnehmung der Inuit bezieht sich jede Landschaftsformation auf eine mythologische Geschichte. Landschaft und Mythos sind untrennbar mit einander verbunden. Die Landschaft bietet ein kollektives Gedächtnis und so nicht nur eine geografische, sondern auch eine psychologische Orientierungshilfe.

Die kanadische Forscherin Sherrill Grace ist dem Konzept des Nordens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung nachgegangen. Sie beschränkte sich zwar auf das arktische Kanada beschränkt, aber was sie über den Wandel dieses Nordbildes aussagt, gilt weitgehend für die gesamte Arktis.

Sherrill Grace: Canada and the Idea of the North (McGill University Press, Montreal 2001)

Auch der britische Archäologe Robert McGhee stellt scharfsinnig dar, was unterschiedliche Zeiten auf “Ultima Thule” projizierten und wie Landschaft und Wahrnehmung zusammenhängen.

Robert McGhee: Human History of the Arctic World (Oxford University Press, Oxford 2005)

Grace ist weitaus spezifischer als McGhee, dessen Beobachtungen oft im Abstrakten bleiben. Er wollte eine Besiedlungsgeschichte der Arktis vorlegen, was ihm vorzüglich und bis ins Detail gelungen ist.

Warum interessiert sich ein “Südländer” für das Bild des Nordens?
Beweisen nicht die Urlauberströme, dass der Süden der Ort des Glücks ist? Der Mitteleuropäer strebt zur Sonne und Wärme, als folge er dem kommunistischen Lied “Brüder zur Sonne, zur Freiheit …”. Dennoch gibt es eine wachsende Zahl von Nordland-Enthusiasten, die jenseits der Massen, elitär im Eis ihr Paradies suchen. Das erinnert an die Nordmänner bei ihrer Besiedlung Grönlands. Damals wie heute suchte man dicht besiedelten Gegenden zu entkommen und sich in menschenleerer Weite zu bewähren. Wie die Nordmänner ihr Paradies erlebten und wie es endete, wird anschaulich in Jane Smileys umfangreichen Grönland-Roman beschrieben, der das Leben dreier Generationen von etwa 1345-1415 beschreibt.

Jane Smiley. Die Grönland Saga (Frankfurt/M. 1992)

Die Arktis lässt uns Eiszeit assoziieren. Sie erzeugt Bilder vom “einfachen” Menschen, die in einer hochkomplexen Gesellschaft idealisiert werden. Darauf beruht die Ethno-Mode, die den Iunuit als “letzten Wilden” entdeckte. Wie sich die Vorstellung der Eiszeit gegen enorme Widerstände im 19. Jahrhundert verbreitete, stellt Edmund Blair Bolles unterhaltsam und faktenreich dar.

Edmund Blair Bolles: Eiszeit (Frankfurt/M. 2003)

Er beschreibt unter anderem, wie Louis Agassiz die Idee der Eiszeit verbreitete. Als diese Vorstellung akzeptiert war, wurde sie von der Volksmeinung mit unseren Ururahnen a la Familie Feuerstein bevölkert, mit primitiven Jägern einer Kulturstufe, der sich der viktorianische Mensch überlegen fühlte und von der er zugleich angezogen war. Eine Gesellschaft, die triebhafte Instinkte verdrängte, brachte Freuds Psychoanalyse genau so wie die Faszination am Wilden hervor, die stets auch sexuelle Untertöne besaß. Wer hat nicht vom Frauentausch der Inuit gehört, der ähnlich erregte, wie die Schilderungen von Cooks Seeleuten über die willigen Südsee-Insulanerinnen?
Dass die meisten Forschungsreisenden in der Arktis Kinder zurückließen, wird in wenigen Werken erwähnt. Der Amerikaner Peary lieh sich z.B. über lange Zeit die schöne Eskimofrau Aleqasina aus, mit der er nicht nur zwei Kinder zeugte, sondern auch Nacktfotos im Pin-up Stil aufnahm. Selbst der rassistische Eskimologe Vilhjalmur Stefansson hinterließ seinen Sohn Alex in der Arktis, den er mit der Inuk-Näherin Pannigabluk gezeugt hatte und um den er sich nie kümmerte.
Neben dem Zauber der enthemmten Inuitfrauen faszinierte andere Reisende die Freuden einer reinen Männergesellschaft, obwohl über homoerotische Freundschaften nie bei den Forschungsreisenden zu lesen ist, obwohl man sich freudig in einem Schlafsack aneinander wärmte.
Ein arktisches Buch zu lesen, verspricht also nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern auch Aufregung und eine latente Erotik.

Publikationen von arktischen Reisen dienten zunächst durch die Verbreitung von Information der Erforschung dieser Gegenden, von denen man sich wirtschaftlichen Erfolg versprach. Ende des 18. Jahrhunderts kommt mit Hearnes Buch (1795) und Mungo Parks Bericht von seiner Afrika-Reise (1799) die unterhaltsame Literatur über die Erforschung unbekannter Länder auf, in deren Tradition noch Nansens Bestseller “In Nacht und Eis” steht. Dieses Buch kann man gemütlich im Bett seinem Partner vorlesen. Es ist ein Buch der Hingabe an die Naturkräfte, eines sich Auslieferns, wie Nansen es ausdrückte. Im 19. Jahrhundert diente die Literatur über die Arktis zunehmend nationalem Interesse. Es ging darum, welche Nation wie weit in den Norden vordrang – eine Potenzprotzerei des je tiefer, je besser. Heute beherrschen “alarmistische Gerüchte” wie auch die berechtigte Sorge um den Klimawandel das Interesse von Wissenschaftlern und Laien an den Polargebieten. Und man glaubt es kaum, endlich haben auch die letzten Esoteriker den Norden und somit den grönländischen Schamanismus für sich entdeckt. Freilich beschäftigten sich bereits führende Esoteriker des deutschen Faschismus mit dem Norden, ohne jedoch den dort praktizierten Schamanismus zu beachten.

Angaangaq: Schmelzt das Eis in euren Herzen! (München 2010)

Siehe auch www.icewisdom.com

Besonders erfolgreich vermarktet sich der grönländische Schamane Angaangaq, der gefühlskalten Europäern die Herzen erwärmt. Wesentlich anmutiger und mit französischem Charme widmet sich der Erfolgsautor und Psychiater Francois Lelord dem Thema Inuit zugleich mit zwei Büchern.

Francois Lelord: Hector und die Entdeckung der Zeit (München 2006)

Francois Lelord: Das Durcheinander der Liebe (München 2008)

Spannend fand ich in “Hector und die Entdeckung der Zeit” die unterschiedliche Zeitauffassung der Inuit, die schon den ersten Forschern auffiel. Amüsant sind die Erlebnisse des Inuit Ulik, der von einer Ölgesellschaft zu Werbezwecken nach Paris eingeladen und dort mit der europäischen Auffassung der Liebe konfrontiert wird.

Arktis_2007

Ultima Thule – das Paradies des Nordens

“Vergeblich suchte ich mich zu überreden, der Pol sei der Ursprung des Frostes, der Torstlosigkeit. Stets bietet er sich meiner Vorstellung als ein Ort der Schönheit, der Freude an.”

Mary Shelley, Frankenstein

Die griechische Klassik vermutete in der Arktis den Wohnort der Hyperboräer, jener glücklichen Menschen, die jenseits der Höhlen wohnten, von denen Boreas, der Norwind, wehte. Das Land dieses Volkes wurde als paradiesisch gesehen. Da zu dieser Zeit keiner der südlicher wohnenden Menschen den hohen Norden gesehen hatte, diente Ultima Thule, wie der äußerste Norden genannt wurde, als Projektionsfläche für verwegenste Vorstellungen. Reisende, die vorgaben, in diese Bereiche vorgedrungen zu sein, erzählten bizarre Geschichten von einer Anderswelt, die märchengleich ihr Publikum faszinierten. Eine der beliebtesten Geschichten war die der vier Flüsse, die am Nordpol in einen Abgrund stürzen, eine Annahme, die noch Mercators Weltkarte prägte.
Das Land der Hyperboräer wird durch Berge vor kalten Winden geschützt, so dass in ihm ewiger Frühling herrscht und das ganze Jahr hindurch Früchte reifen. So nahmen es die griechischen Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.) und Homer an und prägten die Vorstellung vom eisfreien Polarmeer, die noch der deutsche Geograf Petermann im 19. Jahrhundert vertrat.
Die realitätsferne Idee der edlen Hyperboräer überlebte lang. In Friedrich Nietzsches Philosophie treten die “neuen Hyperboräer” auf , die eisgetesteten und kältegestählten Männer, die dem Ideal des viktorianischen Forschungsreisenden oder des Übermenschen entsprachen und die uns wieder in nationalsozialistischen Vorstellungen von der Herrenrasse im Norden begegnen. Sie erscheinen in der Gestalt von Forschern, den bärtigen Ehrgeizlingen mit Frostbeulen, die mit größter Willenskraft einem Schneesturm trotzen.

In Derek Hayes historischem Atlas der Arktis kann man blätternd anschaulich den Wandel des Bildes vom hohen Norden nachvollziehen.

Derek Hayes: Historical Atlas of the Arctic (Douglas & McIntyre, Vancouver 2003)

Wer die deutsche Sprache vorzieht, dem bietet das folgende Buch ähnliche Informationen.

Dreyer-Eimbeck, Oswald: Island, Grönland und das nördliche Eismeer im Bild der Kartografie seit dem 10. Jahrhundert (Wiesbaden 1987)

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Das nebligkalte Totenreich

“Wohin auch immer wir reisen, wir suchen, wovon wir träumten, und finden doch stets nur uns”

Günter Kunert

Einer der ältesten überlieferten “Reiseberichte” vom Norden stammt vom Geografen Pytheas von Massilia . Pytheas brillierte als genauer Beobachter, der als erster feststellte, dass die Gezeiten vom Lauf des Monds abhängig sind, außerdem geht die Astronavigation auf ihn zurück. Er war es, der den Begriff “Ultima Thule” nicht nur prägte, sondern auch vorgab, auf seinen Reisen diesen Ort gesehen zu haben. Freilich stellt sich die Frage wie bei allen Reisenden bis zu Marco Polo, welche Reisen er damit gemeint hat – die inneren oder die äußeren? Wie weit Pytheas in den Norden kam, weiß niemand. Sicher ist, dass er die Antike am Norden interessierte. Gebildete kannten damals den Arktoi, den Eisbären, dessen vage Vorstellung man wie die Götter an den Himmel projizierte. Es bürgerte sich ein, das Land unter dem Sternbild des Bären “Arktis” zu nennen. Sie galt als letzter Außenposten vor dem Abbruch der Welt ins Nichts, wo bekanntlich die Schiffe herunterfallen, wenn sie weitersegelten, nachdem der unselige Kapitän seine Kleider in Panik zerfetzte und sich den Bart ausriss, wie es in arabischen Erzählungen, die klassisches Gedankengut bewahrten, beschrieben wird. Hier fällt der Seefahrer ins Totenreich, das nach antiker Vorstellung ein Ort des kalten Nebels ist.
Charakteristisch für dieses frühe Bild des Nordens ist, dass das Unbekannte eine Projektionsfläche darstellt, auf der sich Inhalte unbewusster Ängste darstellen. Im Unbewussten sedimentieren Vorstellungen, die sich zu Archetypen kristallisieren, die bis hin zu Höllenvorstellungen von Dantes göttlicher Komödie wirkten. Der Norden wurde vom hyperboräischen Paradies zum nebligkalten Ort des Todes, ein Hintergrund, der wesentlich für die Heldenverehrung der Polarforscher speziell im 19. Jahrhundert war (bis diese zur Zeit von Shackletons missglückter Endurance-Expedition vom Kriegshelden verdrängt wurden).

Pytheas Werk “On the Ocean” ist verloren gegangen. Wir kennen es nur durch spätere Autoren.
Genauer kann sich der interessierte Leser bei Tozer informieren:

H.F. Tozer: History of Ancient Geography (Cambridge 1897)

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Der Eingang zur Hölle

“Die Menschen erstrebten von jeher, was sie nicht hatten, und waren bereit, den Preis dafür zu zahlen, dessen es ihnen würdig erschien.”

Gabriel Hanotaux

Lange nach Pytheas entstand im frühen, keltisch geprägten Christentum ein Traum vom Norden, der sich an Brendans Reisen festmacht. Irische Mönche suchten den paradiesischen Ort im Norden, an dem sie ungestört in lieblicher Umgebung Gott nahe seien konnten, und fanden die Hölle.
Im 8. Jahrhundert wurden die Seereisen des Mönchs Brendan unter dem Titel “Navigatio Brendani” zu einem Seefahrermythos vereint. Freilich wurde dieses Epos erst mehrere Generationen nach Brendan niedergeschrieben. Für ihn war Ultima Thule mit der Hölle verbunden und für Christen war die Hölle ein Ort des Feuers. Brendan will auf seiner wohl eher inneren Reise einen feuerspeienden Berg gesehen haben, der so schrecklich war, dass er für ihn den Eingang zur Hölle darstellte. Das kann der Beerenberg gewesen sein, aber er mag auch isländische Vulkane erlebt haben oder von geografisch unspezifischen Träumen seiner Zeit geprägt worden sein.
Die an das Feuer gebundene Höllenvorstellung der Christen führte etwa tausend Jahre später bei der Missionierung der Inuit zu völligem Unverständnis. Für die Inuit wurde das wärmende und lichtspende Feuer durchweg positiv gesehen.

Brendan: Navigatio Sancti Brendani (8.Jh.)

Der Eingang zum Erdinneren

“Es gibt keine Grenzen. Nicht für den Gedanken, nicht für die Gefühle. Die Angst setzt Grenzen.”

Ingmar Bergman

Diese einflussreichen Vorstellungen vom Norden treffen sich darin, im Norden einen Zugang zur Anderswelt zu sehen, eine Idee, die in der Hohlerdtheorie wieder aufgegriffen wurde. Diese bizarre Theorie war die erste Reaktion auf Isaac Newtons Entdeckung der Gravitation und seinen Berechnungen, dass der Mond dichter als die Erde ist. Kein Geringerer als der englische Astronom Edmund Halley folgerte 1691 aus Newtons Annahmen, die Erde müsse hohl sein. Ferner nahm man damals an, alle Himmelskörper seien bewohnt. So war es selbstverständlich, die Hohlräume der Erde zu besiedeln. Die Erde als Kugel wird außen von unserer Welt belebt und innen gibt es eine weitere belebte Welt. Ein breiter Eingang zu dieser Innenwelt soll nahe dem Pol liegen. Hier wurde der Lebensraum der ältesten und intelligentesten Lebensformen vermutet. Irgendwann, so hofften die Hohlerdgläubigen, wird von diesen Lebensformen eine Reinigung unserer Erde ausgehen. In der Thule Gesellschaft, die den Nationalsozialismus vorbereitete, wurde behauptet, dass sich die Herrenrasse in diese Innenwelt zurückgezogen habe. Weniger rassistisch geprägt finden wir ähnliche Ideen bei Jules Verne , Edgar Allan Poe (Poes Bild vom polaren Eingang in die Unterwelt) und explizit im Roman “Hohlwelt” des Mathematikers Rudy Rucker. Die heutige UFO-Szene ist ebenfalls von solchen Träumen geprägt, wenn sie annimmt, dass im Inneren der Erde UFOs darauf warten, die Menschen zu evakuieren, falls eine ökologische Katastrophe eintritt. Die Ausflugschneise dieser UFOs liegt in Thule – und damit ist wohl nicht die amerikanische Air Base in NW Grönland gemeint.

Als Einführung in dieses fragwürdige Thema versteht sich das Buch von Joscelyn Godwin:

Joscelyn Godwin: Arktos. Das Buch der Hohlen Erde (Peinting 1997)

Wiss. Lit.:

Edmund Halley: An account of the change of the variation of the magnetic needle with an hypothesis of the structure of the internal parts of the earth (London 1692)

James McBride: Symmes` Therory of Concenmtric Spheres (1826)

McBride bewegte den amerikanischen Kongress dazu, Gelder für eine Expedition zum Südpol zu bewilligen, um die Öffnung in die innere Erde zu studieren. Die Expedition scheiterte wie viele Polarexpeditionen an einer Meuterei. Sie inspirierte E.A. Poe zu einigen seiner Werke.

Historische Lit.:

Niklas Goodrich-Clarke: Die okkulten Wurzeln des 3. Reiches

Rudolf von Sebottendorf: Bevor Hitler kam (München 1933)

Von Sebottendorf, der maßgeblich für die esoterischen Gedanken der NS-Führung verantwortlich war, präsentiert in diesem Buch unter anderem die Idee der Herrenrasse des Nordens.

Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft (Tübingen 2000)

Hermann Gilbhard: Die Thule-Gesellschaft (München 1994)

Folgende SF-Romane nahmen sich des Hohlerde-Themas an:

Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Wladimir Obrutschew: Plutonien

Rudy Rucker: Hohlwelt

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Der Ort der Fülle

“Das ganze Wesen des Walfängers ist darauf gerichtet, möglichst viele Fische zu fangen und dann vor Wintereinbruch zu Hause zu sein.”

Andrea Barrett: Jenseits des Nordmeers

Nachdem der Norden mystisch als Eingang zur Anderswelt geträumt wurde, schlägt das Pendel um: Der Norden wird zum diesseitigen Ort der Fülle. Das spirituelle Interesse der paradiessuchenden Mönche wandelt sich in ein kommerzielles. Zuerst die Wikinger, später die Walfänger suchten hier ihr Glück. Sie träumten von den Schätzen des Nordens, die ihrer Ausbeutung harren. Martin Frobisher hoffte vergeblich auf Gold als er eine Schiffsladung wertlos glitzernden Kies nach England brachte, andere suchten den kürzesten Weg zu den Schätzen des Fernen Ostens.
Diese Träume waren kompensatorisch, denn im mittleren Europa waren weite Bevölkerungsschichten verarmt. Die ideologisch eingesetzte Vorstellung vom reichen Norden versprach ein Entkommen aus der Misere im eigenen Land. Solche Propaganda, die bereitwillig seit Erik dem Roten verbreitet wurde und zur Bezeichnung Grönland (grünes Land) führte, zogen den Kühnen in den Norden – ein Abenteuer, das allerdings nach dem Ende der mittelalterlichen Warmzeit um 1300 ein abruptes Ende fand. Als alle Wikingersiedlungen auf Grönland um 1350 aufgegeben waren und Grönland aus dem Bewusstsein der südlicheren Völker verschwand, wurde der Traum vom Norden ambivalent. Nach wie vor blieb der Norden zwar das Land der Fülle, aber zugleich wurde Ultima Thule zum gefährlichen Ort, von dem aus tötende Götter südwärts zogen. Besonders gegen Ende der Siedlungsepoche erschienen den Nordmännern die Inuit als Inkarnation des Bösen, wenn sie auch mit Neid erkannten, dass deren Jägerkultur im kälter werdenden Grönland im Gegensatz zu ihrer Ackerbaukultur überlebte.

Als zur Zeit der Reformationskriege Mitteleuropa eine große Armut erlebte, wurde der Schatten Arktis verdrängt. Der Traum von der Fülle nahm wieder überhand und ließ den Walfang hauptsächlich der Holländer und Engländer entstehen. Gleichzeitig träumte man vom kurzen Weg zu den Schätzen des Orients. So begann die Suche nach der Nordost- und Nordwestpassage, die bis ins späte 19. Jahrhundert anhielt und mit der Franklin-Suche und der folgenden Suche nach einigen der Franklin-Suchern ihr Ende fand.
Das Bild vom Norden hatte sich seit dem späten 15. Jahrhundert vollständig kommerzialisiert. Es ließ John Cabot im Mai 1497 von Bristol über den Pol nach China aufbrechen – eine Unternehmung, auf der einiges außer der Seeweg nach China entdeckt wurde. Der gebildete englische Walfänger William Scoresby war einer der wenigen, der erst im 19. Jh. an der Realisierung dieses eitlen Traums zweifelte. Für mich ist Scoresby einer der scharfsinnigsten Beobachter des Eises. Sein Buch “Das Eis der Arktis” von 1815 kann man noch heute mit Genuss lesen.

Adriaen Coenen: The Whale Book (1585 – Nachdruck o.J.)

Dieses Dokument über den englischen Walfang besticht durch seine schönen, wenn auch oft fantasievollen Illustrationen. Wolfgang Müller (Hg.): Neue Nordwelt (Berlin 2005 – Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1613) Dieser “Reisebericht” von Hieronymus Megiser aus dem Jahr 1613 ist typisch für diese Zeit, dass nämlich der Autor nie die Länder besuchte, die er beschreibt. So mischen sich wahre Erzählungen von Reisenden mit Seemannsgarn und volkstümlichen Vorstellungen zu märchenhaften Schilderungen. Abenteuerlich mutet in diesem Bericht die Beschreibung der Inuit an, die eher geilen Gnomen als Menschen gleichen.

Innes Macleod (Hg.): The Greenland Whaling (Alexander Trotter`s Journal of the Enterprise in 1856) (Sandwick/Shetland 1979

McLeod bietet eine detaillierte Beschreibung des britischen Walfangs von Fraserburgh und Lerwick mit Angaben der Fänge pro Schiff und Jahr, die uns das Ausmaß des Abschlachten der Wale vor Augen führt.

Louwrens Hacquebord & Wim Vroom: Walvisvaart in de Gouden Eeuw (Amsterdam 1988)

Dieses wunderschön bebilderte Buch über die goldene Zeit des Walfangs in Smeerenburg/Svalbard und die holländischen Walindustrie scheint mir die verlässlichste Quelle über den Walfang des 17. Jahrhunderts zu sein..

Herman Melville: Moby Dick (ungekürzter Text in Neuübersetzung von F. Rathjen mit den 269 Illustrationen von Rockwell Kent, Frankfurt/M. 2004)

Unser Bild des Walfangs prägte dieser abschweifige, aber doch genial und spannend geschriebene Roman. Diesen Klassiker finde ich unerreicht, was seinen Stil und die beschworene Stimmung der Tragödie betrifft. “Moby Dick” muss man in der ungekürzten Ausgabe lesen. Es gibt eine Fülle gekürzter und geglätteter Ausgaben im Handel, denen jedoch der Charme des vollständigen Originals fehlt. Jeder Kunstliebhaber wird sich an den ausdrucksstarken Federzeichnungen erfreuen, mit denen R. Kent, der “Hogarth junior” genannt wurde, `Moby Dick´ illustrierte. Dort wird der Wal zum Leviathan. Durch starken Strich und mit viel Schwarz kommt er gefährlich lebendig herüber.

Sena Jeter Naslund: Die Walfängerin (München 2004)

Dieser umfangreiche, zweitklassige Roman bezieht sich auf Kapitän Ahab, in den sich Una, die Heldin des Buches, verliebt. Ahab jagt jedoch seinen Moby Dick und glänzt durch Abwesenheit, während Una langweilig erzählt ihr Leben lebt. Dass die deutsche Zeitschrift “Brigitte” diese Mädchenfantasie lobte, verdankt sie wohl ihrer Frauensicht.

Jack London: White Fang (London 1905)

Dieses “Hundebuch” ist ein Klassiker der Trappergeschichten, der oft kopiert wurde. Er spielt in der kanadischen Arktis, wo der Kampf ums Überleben bei Mensch und Tier im Vordergrund steht. Die Menschenfeindlichkeit der Arktis wird hier wie in so vielen Büchern dieser Zeit besonders hervorgehoben. Nachdem die einen, die auf Öl aus waren, verschwanden, folgten diejenigen, denen es um Pelze ging, die im südlicheren Europa und Russland hoch gehandelt wurden. In diesem Milieu spielt “White Fang”. Berühmt wurde Jack London für seine Klondike-Romane, die zur Zeit des Goldrausches im Yukon-Gebiet spielen.

Mosebach, Martin: Der Nebelfürst (München 2008)

Dieser vielfach ausgezeichnete Roman ist zwar stilistisch gelungen, jedoch eher schlampig im Umgang mit den Fakten. Die Bäreninsel, um die es in diesem Roman geht, wird nördlich von Spitzbergen angesiedelt, wobei ein Blick auf die Karte der Arktis genügt hätte, sie südlich von Spitzbergen zu finden. Mir gefällt jedoch an diesem Roman die Ironisierung der Kolonialpolitik zum Ende des 19. Jahrhunderts und sein Sprachwitz. Dass der deutsche Theodor Lerner die bis dahin herrenlose arktische Bäreninsel 1898 in seinen Besitz nahm, ist ein erstaunliches, aber gesichertes Faktum. Trotz einiger Ungenauigkeiten in bezug auf die geografischen Fakten handelt es sich um einen lesenswerten Roman, in dem es um die geplante Ausbeutung der Kohle auf dieser kleinen Insel geht.

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Aus Traum wird Wissenschaft

“Männer wie ihr, die auf Forschungsreisen gehen, mit viel Geld und viel Trara und dicken Wintersachen, und die glauben, sie würden irgendwelche Entdeckungen machen, während überall, wo ihr hinkommt, längst ein Walfänger war. […] Das ist alles, was bei Entdeckungsleuten herauskommt […], dass sie verloren gehen.”

Andrea Barrett: Jenseits des Nordmeers

Die meisten Träume vom Norden waren lange Zeit von einer rührenden Naivität geprägt, obwohl bereits am Ende des 16. Jahrhunderts mit Willem Barents ein anderer Geist die Arktis betrachtete. Mit ihm und seinem Zeitgenossen John Davis begann sich der wissenschaftliche Blick durchzusetzen, der Klima, Meeresströmungen und Eisverhältnisse studierte. Die von diesem Geist beseelten Forschungsreisenden opferten den Traum von Ultima Thule der Realität. Heutzutage mischen sich wissenschaftliches und ökonomisches Interesse an der entmythologisierten Arktis. Dazu kommt ein touristischer Öko-Voyeurismus, der die Natur des Nordens wieder zu mythologisieren versucht.

Barry Lopez: Arktische Träume (Frankfurt/Main 2007)

Dieses Buch halte ich für die beste Einführung in die Arktis. Lopez kann so gut schreiben, dass Margret Atwood ihn “als großen Erzähler” bezeichnete. Er weiß viel zu berichten und für mich ist “Arktische Träume” der aktuelle Klassiker der Sachbücher über die Arktis.

H. Höfling: minus 69 Grad (Düsseldorf 1976)

Dies ist eine historisch interessante Arbeit, die dokumentiert, wie man in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Expeditionen und die Erforschung der Arktis bewertete. Es erstaunt, wie wir heute Vieles völlig anders bewerten, z.B. glaubt kein Mensch mehr, dass Peary und Cook am Nordpol waren und man weiß auch, woran die Franklin-Expedition umkam. Der Autor weiß das alles noch nicht. Obwohl die Fakten veraltet sind, halte ich “minus 69 Grad” für eine gute Quelle zur Information über die Expeditionsgeschichte der Arktis. Höfling ist jedoch ein witziger Fehler unterlaufen: Nobiles Hündchen Titina, das als erster Hund den Nordpol überflog, wird als “Titania” angeführt.

Brauner/Jakobi: Meer & Eis (Hamburg 2001)

Mir gefällt an diesem Buch, wie knapp und dennoch wissensreich die Autoren über die Arktis schreiben. Sehr verständlich wird Wissenschaft vermittelt, außerdem ist die Zusammenstellung zwischen gemalten Bildern und Fotos gelungen.

Das große Thema arktischer Forschung, ist die globale Erwärmung. Wer sich hierüber genauer informieren möchte, dem sei der Arktis-Klima-Report empfohlen.

ACIA Der Arktis-Klima-Report, Arctic Climate Report (Cambridge 2004)

Anschaulich wird in Diagrammen und Karten nicht nur das Klima, sondern auch die gesamte Geografie und Biologie der Arktis dargestellt. Ich empfehle, dieses anschaulich bebilderte Werk zuerst lesen, bevor man sich anderer arktischer Literatur zuwendet. Hier bekommt man übersichtlich die wesentlichen wissenschaftlichen Fakten in Diagrammen, Foto und Text vermittelt.

National Geographic: The Big Thaw (Titelthema im Heft Juni 2007)

Das Titelthema Erwärmung der Arktis wird wie im Arktischen-Klima-Report differenziert dargestellt, allerdings leserfreundlicher in journalistischer Art. Es entspricht dem Stil von NG, dass die Artikel mit hervorragenden Fotografien bebildert sind.

Jahresberichte des Alfred Wegener Instituts

In ihnen findet der Interessierte neueste Informationen über die Forschung in den Polargebieten.

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Der Ort der Helden schafft

“Sie standen im Steven ihrer armeseligen Schuten auf kühner Fahrt und wussten selbst nicht, dass sie Helden waren”

Thomas Carlyle

Träume sind vom Zeitgeist abhängig. Mit der Entdeckung der individuellen Seele in der Romantik kommt das Interesse am Schatten auf. Das Verdrängte wird nicht nur im Schauerroman wahrgenommen, sondern auch in der Realität. Der Norden wird zum feindlichen, asketischen Ort, an dem der Held sich durch Leiden bewährt und entwickelt. Gerade Roald Amundsen pflegte diesen Traum vom einsamen Helden, der sich wie Kapitän Ahab gegen die feindliche Natur zu bewähren hat. Amundsen entspricht damit dem Bild des Helden in den Mythen der Völker, für das nach dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell “die freiwillige Introversion” gehört, die “von ihm als Mittel bewusst verwandt wird”. Damit wird der Norden wieder der mystifizierte und erhabene Ort, der Helden hervorbringt – ein Traum, der gefährlich nahe an faschistischen Träumen angesiedelt ist.

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts und der Gründung der britischen Royal Geographic Society werden zunehmend Forschungsreisende wie John Franklin, John Ross und William Edward Parry nicht nur zu Helden stilisiert, sondern auch zu Vorbildern des Volkes in der Literatur aufgebaut. Franklin war so beliebt, dass von seinem Portrait billige Stiche in den Straßen Londons verkauft wurden. Um ihn rankten sich die meisten Geschichten. Bereits 1798 schrieb Friedrich Schiller an Goethe, dass Weltentdecker oder deren Schiffe “einen schönen Stoff zu einem epischen Gedichte” bieten würden.

Francis Spufford: I May Be Some Time: Ice and the English Imagination (New York 1997)

Spuffold geht diesem Phänomen nach und heraus kam eine lesenswerte Untersuchung der englischen Besessenheit von der Polarforschung. Der Autor zeigt kenntnisreich auf, wie sich diese in Kunst und Literatur widerspiegelt. Dieses Buch ist eine Kulturgeschichte der polaren Erforschung.

Beim Studieren der Entdeckungsgeschichte der Arktis hat mich verblüfft, dass die Suche nach der Nordwest- und Nordostpassage zwei große Helden hervorbrachte, die bei genauerer Betrachtung Versager waren. Es sind John Franklin und Elisha Kent Kane, die mit rührender wie tragischer Naivität begeistert in den Norden zogen und durch ihre mangelnde Führungsqualitäten das Desaster anzogen. Kane, einer der ersten großen Medienstars der USA, war der letzte Eismeerfahrer, der behauptete, das sagenhafte offene Polarmeer gesehen zu haben. Obwohl er an den falschen Stellen nach Franklin suchte, wurde er doch als großer Held gefeiert.
Franklins Expedition und die nachfolgende Suche nach ihm brachte die meisten schauerlichen Arktisgeschichten in den Umlauf. Die Suche nach dem verschollenen Franklin war das literarisch produktivste Ereignis der gesamten Arktisforschung bis heute. Zum Bestseller wurde Nadolnys Franklin-Roman, der als eine leicht nur idealisierende Charakterstudie des erfolglosen Forscher gesehen werden kann. Das Thema ist John Franklins Versuch, die NW-Passage zu bezwingen. Bis heute, so schätzt der informierte Abenteuerreisende Jonathan Waterman, ist es nicht mehr als zwanzig Menschen gelungen, die Nordwest-Passage aus eigener Kraft zu durchfahren.

Stan Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit (München 1987)

Die Suche nach der Mannschaft der Franklin-Expedition dient auch der der amerikanischen Biologin und Romanautorin Andrea Barrett als Romanthema. Ihr Roman besticht durch die Belesenheit der Autorin und ist zugleich klug aufgebaut. Er reflektiert die Franklin-Suche und allgemein polare Expeditionen und ist unterhaltsam zu lesen. Die Geschichte fiktiver Helden wird erzählt, indem die Autorin sich auf geschichtliche Helden des Eises wie Franklin, Kane, Belcher und Wilkes bezieht. Es geht in diesem Buch im Gegensatz zu vielen anderen Eisromanen um die Destruktion des Helden.

Andrea Barrett: Jenseits des Nordmeers (München 2001)

Von den vielen Büchern über Franklin sei noch das Jungendbuch von Owen Beattie erwähnt, der in den achtziger Jahren die Leichen einiger Expeditionsteilnehmer auf Beechey-Island ausgrub. Er ließ sie analysieren, womit das Geheimnis des Scheiterns dieser Expedition gelöst war. Einen wesentlichen Anteil am Niedergang der Mannschaft hatte die Bleivergiftung, die durch bleiverlötete Konserven als Expeditionsnahrung hervorgerufen wurde.

Owen Beattie & John Geiger: Begraben im Eis der Arktis (Nürnberg 1992)

“Begraben im Eis” ist ein informativ bebildertes Jugendbuch, das 1992 auf der Auswahlliste für den Preis der deutschen Jugendliteratur stand. Auch ein Erwachsener, der sich schnell und fundiert über die Franklin-Expedition informieren möchte, sei Beatties und Geigers Buch empfohlen, das am Schluss einen kurzen historischen Überblick über die Suche nach der Nordwestpassage gibt.

Sheila Nickerson: Das gefrorene Meer (München 1998)

Dieser Roman wurde von Kritikern mit Bruce Chatwins “Traumpfade” verglichen. Er beschreibt das Leben in Alaska und ist über weite Strecken wie ein gutes Sachbuch geschrieben. Nickerson geht auf alle großen Expeditionen der NW-Passage ein und behandelt Knud Rasmussens Thule-Expeditionen. Ein spannendes und informatives Buch, in dem es einige Tote gibt.

Was zwar den Schauder des Lesers erhöhte, jedoch nicht in das Bild des edlen Helden passte, waren die Geschichten über Kannibalismus, die bei der gescheiterten Franklin-Expedition um so schockierender wirkten, da er von englischen Offizieren verübt wurde. Charles Dickens weigerte sich zu glauben, dass zivilisierte Engländer aus Franklins Crew zu so etwas fähig waren.

Einen guten Überblick über die “Heldentaten” im Norden geben Officer und Page.

Charles Officer, Jake Page: Die Entdeckung der Arktis (Berlin 2002)

Die Autoren erzählen die Geschichte der Helden und Narren, eben der Entdecker, die sich spannend liest. Es ist erstaunlich wie die Toten den größten Ruhm bekamen. Sie bestätigen, dass tote Entdecker die größte Chance haben, in die Encyclopedia Britannica aufgenommen zu werden.
Eine historisch aufschlussreiche Sicht auf die Fahrten der Helden des Nordens bietet

Paul Zeidler: Polarfahrten (Berlin 1927)

Unbekanntere deutschsprachige Eismeerfahrer wie David Cranz (1723-1777, Mitglied der Herrenhuter Mission auf Grönland), Karl Ludwig Giesecke (1761-1833) und Barto von Löwenigh (1799-1853) werden neben den bekannteren Forschern Karl Koldewey und Julius Payer beschrieben.

Gerhard Grümmer (Hg.): Nördlich von Europa. Reisen deutschsprachiger Forscher nach Grönland, Spitzbergen und andere Inseln der Arktis in den Jahren zwischen 1760 und 1912″ (Berlin/DDR 1989)

Farid Abdelouahab: Entdecker im ewigen Eis (Kehl 2006)

Dies ist ein wunderbares Dokument der Kunst der Helden, die sich in ihren Reistagebüchern zeigt. Es zeigt hervorragend illustriert Reisetagebücher aus der Arktis und der Antarktis.
Der Klassiker dieser Bücher über die Eismeerfahrer ist Knud Rasmussens “Das Heldenbuch der Arktis” von 1933.

Nun zu den einzelnen Helden

Fridtjof Nansen In Nacht und Eis (2 Bde., Berlin 1987)

Ich halte das für eines der besten geschriebenen Expeditionstagebücher der Arktis. Nansen schreibt literarisch, indem er Fakten, Träume, Gefühle, Beobachtungen und Reflexionen kunstvoll miteinander verbindet. War er schon nach seiner Grönland-Durchquerung ein kleiner Volksheld, so wurde er durch dieses Buch ein großer Held des jungen Norwegen, der später für seine politische und humanitäre Karriere den Nobelpreis verliehen bekam. Jules Verne verehrte Nansen und schwärmte für dessen Expeditionsberichte genauso wie der amerikanische Präsident William McKinley.
2007 veröffentlichte der norwegische Regisseur Kurt Salo den Nansen-Film mit dem Titel “Breaking the Ice – Arctic Style”, der sich eng an Nansens Tagebuch hält.
Als Nachfolge-Held von Nansen versuchte sich sein “Schüler” Amundsen zu profilieren. Tor Bomann-Larsen kratzt jedoch an dessen Heldenbild.

Tor Bomann-Larsen: Amundsen (Hamburg 2007)

Dies ist eine hervorragend recherchierte, umfangreiche Amundsen Biografie, in der Amundsen als rücksichtsloser Narzisst erscheint. Im Gegensatz zu Nansen konnte Amundsen nicht gut schreiben. Er ließ weitgehend seine Tagebücher schreiben, die jedoch auch ihm zu großen Ruhm verhalfen.
Diese Amundsen-Biografie bot die Grundlage zu dem norwegischen Dokumentarfilm “Frozen Heart” (2001) von Stig Andersen und Kenny Sanders.

Ragnar Kvam jr.: Im Schatten (Berlin 2002)

Diese Biografie von Hjalmar Johansen, zeigt den verzweifelten Begleiter von Nansen und Amundsen, der seinem Leben durch Suizid eine Ende setzte – was dem Heldenbild Amundsens abträglich war. Johansen scheiterte am Problem des heimkehrenden Helden, das Campbell in seinen Heldenbuch hervorhebt, nämlich nach den Freuden und Leiden der Heldentat mit den “Banalitäten und lärmvollen Gemeinheiten” des realen Lebens wieder zurecht zu kommen.
Amundsen zerstritt sich ungerechter Weise mit Johansen und degradierte ihn, was zu dessen Alkoholismus und Selbsttötung führte. Der Anlass war, dass Amundsen auf ein fast sterbendes Expeditionsmitglied keine Rücksicht nahm. Er verschwand mit einer schnellen Schlittenfahrt im Lager. Johansen dagegen rettete diesen Mann. Er machte den selbstherrlichen Amundsen öffentlich Vorwürfe, die dieser ihm nie verzieh. Allerdings kam Johansen bereits zuvor mit seinem Leben außerhalb der Arktis nur schwer zurecht.
Ein weiterer Held des Eises ist der Italiener Umberto Nobile, der Luftschiffkonstrukteur, mit dem Amundsen um dem Ruhm kämpfte, zuerst den Nordpol überflogen zu haben. B. Musolini ermöglichte Nobile eine weitere Nordpolexpedition mit dem Luftschiff “Italia”, das jedoch im Eis auf dem Rückflug von Pol havarierte. Bei der Rettung seines “Feindes” Nobile kam Amundsen um, was jedoch seinen Ruhm als Held des Eises nach der Johansen-Affäre wieder aufbaute. Nobile hingegen fiel tief: Vom Helden wurde er zur persona non grata, da er sich nach der Bruchlandung der “Italia” aus nachvollziehbaren Gründen als erster retten ließ. Erst im hohen Alter wurde er rehabilitiert.

Markus Hattstein: Die Unerbittlichkeit des Eises In: Eiszeit, Anthologie, Aufbau Vlg., Berlin 2000, S. 75-103

Hervorragend recherchiert und gut geschrieben ist diese Nobile-Story.
Richard Evelyn Byrd behauptete, mit Floyd Bennett drei Tag vor Amundsen und Nobile (Luftschiff “Norge”) den Pol überflogen zu haben, was sich jedoch kurz danach als Lüge herausstellte, die Bennett zugab.

Richard E. Byrd: Aufbruch ins Eis (Bergisch Gladbach 1998)

Per Olof Sundman: Ingenieur Andrées Luftfahrt (Köln 1969)

Der schwedische Journalist Sundman legt einen kritischen und brillant geschriebene Roman vor, der die meisten Thesen um den Heldenkult, die Thomas Kastura wieder aufgreift, gut darbietet. Der Roman ist bestens recherchierter und beschreibt, wie Andrée zum Helden stilisiert wird, schon bevor er seinen Ballon steigen lässt. Dass er der erste war, der den Pol durch die Luft erreichen wollte, genügte, um ihn zum schwedischen Volkshelden werden zu lassen, auch wenn er mit seinem Ballon nicht weit kam und sich am Schluss verständlicherweise selbst tötete. 33 Jahre später fand man die von Eisbären angefressenen Leichen und die Tagebücher dieser tragischen Expedition.
Dieser Roman wurde 1982 in Schweden unter dem Titel “Der Flug des Adlers” von Jan Troell verfilmt und 1983 als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert. 1997 nahm Troell dieses Thema in seinem Dokumentarfilm “Der gefrorene Traum” erneut auf.
Einen lesenswerten Roman über einen Flugzeugabsturz in Alaska und das Überleben des Piloten, der einen Rekord im Alleinflug aufstellen wollte, schrieb die Australierin Julie Harris. Dieser Entwicklungsroman spielt gegen Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts und folgt der Moral, dass es Sinn macht, zu überleben. Aus der Sicht des amerikanischen Piloten, der über den Aleuten abstürzte und 17 Jahre bei den dortigen Ureinwohnern lebte (bis 1943 diese Inseln evakuiert wurden), wird das Leben einer Gruppe von Jägern auf einer kleinen Insel beschrieben und mit dem Leben in der “Kultur” verglichen.

Julie Harris: Der lange Winter am Ende der Welt (Berlin 1998)

Wie bei allen gut verkauften Büchern schrieb Harris einen zweiten Band, der sieben Jahre später veröffentlicht wurde.

Julie Harris: Eisgeflüster (Berlin 2002)

In diesem Roman beschreibt die Autorin das Leben des Sohns dieses Piloten, der versucht, seiner Aleuten-Inuit-Herkunft zu entfliehen.
Einen der besten Romane über arktisches Heldentum, ohne dieses auch nur im Ansatz zu idealisieren, schrieb der österreichische Autor Christoph Ransmayr, dessen Buch zu den modernen Klassikern der Weltliteratur gezählt wird.

Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und des Finsternis (Wien 1984)

Dieser Roman um die Helden der Weyprecht-Payer-Expedition mit dem Schiff “Admiral Tegetthoff” ist herausragend in jeder Hinsicht: das Plotdesign, der Stil, der Spannungsaufbau und die Recherche sind brillant. Die meisten Entdecker-Romane fallen dagegen ab. In diesem Roman kann man hautnah die Dramatik einer arktischen Expedition erleben.

W. L. McKinlay: Karluk (Köln 1999)

Ergreifend wird Stefanssons Expedition dokumentiert, von der man sonst nichts weiteres liest, als dass Stefansson der fragwürdigste aller Arktis Explorer war. Stefansson kann als der böse Anti-Held der Arktis angesehen werden, der den größten Tabubruch beging, in dem er seine Männer im Stich ließ und sich für eigene Forschungen davon schlicht. Der Isländer Stefansson gilt seitdem als das schwarze Schaf unter den arktischen Helden. Das Buch eines der wenigen Überlebenden dieser Expedition vermittelt einen guten Eindruck des Dramas ohne Bitterkeit.

Tom Wittgen: Eismeerdrift (Berlin 1979)

Wittgen beschreibt die Geschichte der “Jeanette” – der von Stefansson verlassenen Expedition – in Romanform in einem simplen Stil.

Michael Köhlmeier: Spielplatz der Helden (München 1988)

Dieser Roman erzählt aus drei unterschiedlichen Perspektiven der ehemaligen Teilnehmer eine Grönlandexpedition, in die die Liebesgeschichte des Helden eingeschachtelt ist. Der Text ist stilistisch interessant konstruiert und teilweise witzig.

J. Andersen: Packeis und ferne Horizonte (Kopenhagen 2002)

Der Abenteurer Andersen besitzt detaillierte Kenntnisse über die Geschichte der NW-Passage. Der Reisebericht ist gut geschrieben, allerdings stört, dass der Autor immer wieder seine anderen Bücher und Leistungen anführt.

Leosch Schimanel & Cestmir Sebesta: Die Nord-West-Passage (Karlsruhe 2002)

Im Gegensatz zu Andersens Schilderung seiner Kajakfahrt ist dieses Buch der Fahrt mit Segel- und Schlauchboot langatmig. Die Autoren bemühen sich, heldenhaft zu wirken.

T. Jones: Gefangen im Eis (Bielefeld 1983)

Jones besticht dadurch, ein ehrlicher und charmanter Seebär zu sein. Das Buch liest sich amüsant. Allerdings sind historische und allgemeine Fakten – außer wenn sie nautische sind – fast immer falsch wiedergegeben. Man nimmt diesem heldenhaften Seebär das jedoch nicht übel.

Jean-Louis Etienne: Faszination Arktis (München 1990)

Hierbei handelt es sich um den Bericht der Nordpolexpedition des französischen Arztes von 1986 – ein modernes Heldenbuch, das den Werdegang eines heutigen Abenteurers reflektiert.
Ein weiterer moderner Held des Eises ist der Deutsche Arved Fuchs, der wegen seines Streits mit Reinhold Messner, aber auch wegen seiner Heldentaten im Polargebiet viel Beachtung von den Medien erhielt. Seit 1977 führt er Expeditionen in die hohe Arktis durch. Er durchquerte 1983 Grönland mit einem Hundeschlitten. 1989 erreichte er innerhalb eines Jahres zu Fuß den Nord- und Süd-Pol und bezwang zwei Jahre später in dreijähriger Fahrt die Nordwest-Passage – also ein wahrer moderner Held des Eises.

Arved Fuchs: Von Pol zu Pol (Köln 1990)

Jørn Riel: Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf (Zürich 2002), Zuviel Glück auf einmal (Zürich 2004), Das Haus meiner Väter (Zürich 2008)

Alle Bücher von Riel habe ich mit Freude gelesen. Dort tummeln sich die Antihelden, die es heute nicht mehr gibt, da Ost-Grönland zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Hier finden der interessierte Leser Trappergeschichten, die äußerst skurril und unterhaltsam sind, wenn auch sehr fantasievoll ausgedacht. Der Autor hat selbst einige Zeit in Ost-Grönland gelebt. Trotz aller Fantasie treffen diese Geschichten den Kern, wie es vor nicht allzu langer Zeit unter den Trappern in der Arktis zuging. Riel verspricht größten Lesespaß.
Last not least sollte noch die weibliche Heldin des Eises erwähnt werden, deren Buch zu den Klassikern der arktischen Literatur gehört und zu Recht immer wieder aufgelegt wurde, da es spannend wie einfühlsam das Traperleben auf Spitzbergen beschreibt.

Christiane Ritter: Eine Frau erlebt die Polarnacht (Frankfurt/M., Berlin 1997)

Die Hitler-Freundin Leni Riefenstahl drehte 1933 den Film “SOS Eisberg” auf Grönland, der in der Tradition der beliebten “Pol-Hörspiele” der Weimarer Republik stand. Knud Rasmussen, der gleichzeitig “Palos Brautfahrt” auf Grönland drehte, war der Schirmherr dieses Filmprojekts. Einer der Helden von Riefenstahls Films ist der berühmte Flieger Ernst Udet, der sich im Film selbst spielt. Erwähnenswert ist neben den wundervollen Landschaftsaufnahmen die dramatische Filmmusik von Paul Dessau.

S.O.S. Eisberg. Arnold Franck. D 1933. 90 Min. Mit Leni Riefenstahl, Gustav Diessl, Ernst Udet.

Die Handlung: Der Forscher J. Brand bricht mit seinen Männern zum Karajak-Gletscher auf, um die Überlebenden einer Expedition zu suchen. Beide Expeditionen treffen sich auf einem Eisberg, der gen Süden treibt. Leni Riefenstahl, die das nationalsozialistische Heldenbild stilisierte, schrieb nach ihren Erfahrungen mit dieser Filmarbeit ein Grönlandbuch, das jedoch heute schwer zugänglich ist.

Leni Riefenstahl: Kampf in Schnee und Eis (Hesse & Becker, Leipzig 1933)

Aufschlussreich in Bezug auf die Eishelden sind auch Helmut Lethens und Cornelia Michelis-Maslochs Aufsätze.

Helmut Lethen: Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden. In: D. Kamper und W. van Reijen (Hg.): Moderne versus Postmoderne (Frankfurt/M. 1978), S. 282-324

Cornelia Michelis-Masloch: Die Kälte in der Literatur oder Literatur der Kälte. In: Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule-Siegen (Siegen 1991, S. 161-172

Wo Kälte herrscht, ist das Eis nicht fern.

Christine Reinke-Kunze: Die Packeiswaffel (Basel, Berlin 1996)

Die deutsche Journalistin führt unbeachtete Aspekte von Schnee und Eis an, außerdem wird uns der junge Nansen in diesem Buch nahegebracht.

Logbücher
Die veröffentlichen Logbücher von James Cook, einem der größten aller britischen Seehelden, und dem Dichter Adalbert von Chamisso halte ich für unlesbar, was sicher daran liegt, dass sie nicht zu Veröffentlichung gedacht waren. Der Schriftsteller und Finanzier bei Cook war Banks, der später Englands führender Naturwissenschaftler wurde. Er brillierte allerdings nicht durch Schilderungen des hohen Nordens, sondern der sexuellen Freizügigkeit der Insulaner der Südsee. Wäre Cook über die Beringstraße hinausgekommen, hätte Banks auch von hier einiges an Frivolitäten berichten können. Grundsätzlich waren nach Arktisreisen die Tagebücher der Teilnehmer dem Leiter für ein Jahr auszuhändigen, der sich bei seinen Veröffentlichungen aus diesen Tagebüchern großzügig bediente. Bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein war diese Praxis üblich, führte jedoch häufig zu Missstimmigkeiten zwischen Leiter und Mannschaft.

Cook und Adalbert v. Chamisso – Logbücher (unterschiedliche Ausgaben)

Zum Einschlafen langweilig ist das Tagebuch des romantischen Dichters, das er während seiner Expedition in die Arktis unter Kotzebue führte. Die Logbücher von Cook über das Gebiet der Beringstraße sind spannender, aber letztendlich nur für den wirklich Interessierten lesenswert. Wir sind heute literarisch verwöhnt und ein Logbuch zieht nur noch wenig Leser in den Bann.

Edward Belcher: The Last of the Arctic Voyages (2 Bde., London 1855)

Dies ist der Bericht der letzten klassischen Arktis-Expedition auf den Spuren von Franklin – wie Belcher annahm. Es ist ein relativ uninteressantes Logbuch der NW-Passage. Belchers Schiff “Resolute” war 1853/4 vom Eis eingeschlossen worden und hatte sein Schiff aufgegeben. Wegen dieser Fehlentscheidung wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt, da man ihm vorwarf, er nächsten Sommer leicht wieder freies Fahrwasser erreichen können. Belcher wurde mit Mühe und Not freigesprochen.

Populäre Romane
Häufig neigt man dazu, auf die sogenannte große Literatur anerkannter Autoren wie Melville, Andersch, Ransmayr, Nadolny und Kollegen zu schauen, um ein Bild der Arktis zu bekommen. Dabei übersieht man, dass gerade die zweit- und drittrangigen Autoren ungebrochener und somit deutlicher die herrschenden Vorurteile und Klischees über die Arktis darbieten.

Audrey Schulman: Die Farben des Eises (Frankfurt/M. 1995)

Ich gebe T. Kastura recht, dieses Buch ist bestenfalls drittklassig. Zum einen ist es platt männerfeindlich und lässt kein Klischee aus, zum anderen ist der Plot altbekannt: die Selbstfindung im Schneesturm. Stilistisch schlecht geschrieben weist es über die Farbe keine wesentlichen Beobachtungen auf, so dass man sagen kann: Thema verfehlt. Dennoch halte ich es für ein interessantes Dokument in bezug auf Klischees über die Arktis. Als Leser hätte ich bei diesem Titel eine Ausführung über die Wahrnehmung der Farbe bei Forschungsreisenden oder den Inuit erwartet. Die Inuit können subtile Töne in der arktischen Landschaft wahrnehmen, wo der Mensch aus südlicheren Breiten einzig einen Graubraunton sieht.

Ian Cameron: Insel am Ende der Welt (München 1984)

Diesen Abenteuerroman finde ich spannender, wenn auch die Geschichte im simplen Stil erzählt wird. Es ist einer der wenigen Arktisromane mit Happy End. Allerdings werden hier die bösen Inuit beschworen und die Idee von Stefansson der blonden Inuit wird kühn verarbeitet. Stefansson nahm an, dass sich Überlebende der Wikingerkultur Grönlands mit Inuit mischten und so einen Stamm blonder, blauäugiger Inuit bildeten. Der amerikanische Ethnologe Diamond Jenness konnte jedoch zeigen, dass hohes Alter, genetische Abweichungen und Schneeblindheit für dieses untypische Aussehen der Inuit verantwortlich ist, die auch Rasmussen auf seiner großen Schlittenreise bei Victoria Island traf.

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Die Entdeckung der Inuit

“Die Eskimos werden nirgendwo in der Literatur gewürdigt. Niemand spricht von den Eskimos, die Amundsen beibrachten, wie er die Nordwestpassage überleben würde, oder von den Eskimos, die den Leuten halfen, zum Nordpol zu gelangen, geschweige denn davon, wie all die Walfänger hier durchgefüttert wurden”

Lily Ann, Inuk aus Nunavut

Zunehmend zum Ende des 19. Jahrhunderts werden sich einige Autoren bewusst, dass der hohe Norden bewohnt ist. Einige wenige erkannten, dass die weißen Flecken auf der Karte nur weiß aus der Sicht der dort nicht Wohnenden sind. Knud Rasmussen war einer der frühen Forschungsreisenden, der weniger daran interessiert war, neues Land zu entdecken, sondern mehr an der Kultur und den Geschichten der dort lebenden Inuit. Der amerikanische Ethnologe und Rassentheoretiker Samuel Morton charakterisierte 1839 in seinem viel diskutierten Buch “Crania Americana” die Grönland Eskimos als “gerissen, sinnenfroh, undankbar, stur und gefühllos” und drückte damit die herrschende Meinung der damaligen Zeit aus. Diesem Vorurteil wollte Rasmussen entgegentreten.

Samuel Morton: Crania Americana (Philadelphia 1839)

Seit Mylius und Rasmussen ändert sich langsam das Bild des Inuit als Archetyp des “primitiven” Menschen. Erst heute beginnt man ihn als “normalen Menschen” statt als Exoten zu betrachten. Aber dieses Bild ist zwiespältig: Auf der einen Seite bewundert man die Inuit als natürlich lebendes Volk, das in einer unverfälschten Natur überleben kann, auf der anderen Seite bedauert man die Inuit und speziell die Grönländer, deren Lebensart fast untergegangen ist und die durch Einfluss der südlicheren Völker zu Alkoholismus, Kriminalität, Gewalt und Inzest getrieben wurden. Allerdings ist der Niedergang der Inuit in Alaska und Sibirien noch dramatischer als jener der grönländischen Inuitkultur. Auf das Elend der Inuit des arktischen Kanadas machten 1952 die beiden Veröffentlichungen “People of the Deer” von Farley Mowat und “The Face of the Arctic” von Richard Harrington die Weltöffentlichkeit aufmerksam. Diese Bücher lösten politische Diskussionen aus, die die kanadische Regierung zwangen, das Los der Inuit zu verbessern. Letztendlich führten sie 1999 zur Gründung von Nunavut (was “unser Land” in Inuktitut bedeutet) als Inuit-Bundesstaat Kanadas. Anfang Juni 2008 entschuldigte sich offiziell der kanadische Premier Stephen Harper bei den Inuit für “die Gewalt gegen sie im Namen des Guten”, womit er auf die Zwangsassimilierung ansprach, mit der die alte Inuit-Kultur ihr Ende fand.
Seit 1977 haben sich die polaren Völker in der Inuit Circumpolar Conference zusammengeschlossen, um ihre politischen Interessen besser durchsetzen zu können.

Den besten Überblick über das Leben der Inuit bietet

Jean Malaurie: Der Ruf des Nordens. Auf den Spuren der Inuit (München 2001)

Der alte Herr der französischen Inuit-Forschung betrachtet in diesem umfangreichen Werk alle polaren Ureinwohner bis heute. Er zeichnet kein romantisches Bild dieser Menschen und ist damit Rasmussen vergleichbar. Das Buch weist informative und berührende Fotos auf.
Über die Geschichte der Inuit informiert sich der Interessierte am besten bei

Hans-Georg Bandi: Urgeschichte der Eskimo (Stuttgart 1965)

oder bei der umfangreichen Darstellung der Geschichte, Mythen und des Alltagslebens der Inuit von Wally Herbert, die mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, aber auch für jeden Erwachsenen mit Gewinn zu lesen ist.

Wally Herbert: Eskimos (Wien, Esslingen 1976)

Die Märchen, Sagen und Mythen der Inuit sind wie die aller Völker von deren äußeren Lebensraum geprägt. Im Gegensatz zu bäuerlichen Gesellschaften, die die Natur domestizieren, sind die Jäger der Inuit darauf angewiesen, was die Natur ihnen anbietet. Insofern sind die polaren Mythen und Märchen vom Respekt gegenüber der Natur geprägt und die Grenzen zwischen Tier und Mensch sind oft fließend. Schon Plinius d.Ä. wusste, dass die Bewohner der Arktis wunderbare Geschichten von Generation zu Generation weitergeben.

Heinz Barüske: Märchen der Eskimo (Frankfurt/M. 1973)

Auffallend bei den Märchen, die ursprünglich nur erzählt und nicht niedergeschrieben wurden , ist die häufige Präsenz der Sexualität. Sie wird offen beschrieben, es werden Zoten gerissen und auch ungewöhnlichere Sexualpraktiken wie Sodomie kommen immer wieder in den Märchen vor. Im Märchen präsentiert sich die Welt der Inuit als von Jagd und Sex bestimmt (wie auch in den Filmen “Palos Brautfahrt” von Rasmussen und “Atarnarjuat” von Zacharias Kunuk). Der westliche Held in Harris Roman “Der lange Winter am Ende der Welt” vergleicht das Geschichtenerzählen der Inuit mit dem Kino in der westlichen Welt.

Ina Vandewijer: Anana – Eine Inuit-Legende (München, Zürich 2002)

Die flämische Autorin schildert die Entwicklung eines Mädchens, das im Norden Alaskas als Junge aufwächst, ihre Weiblichkeit entdeckt und zur Schamanin wird. Es ist ein schön erzähltes und illustriertes Buch.

Mythen der Menschheit (Arktis). Die Geister der Schneefelder (Amsterdam 1999)

Dieses Time Life Buch besticht durch seine Bebilderung.
Wenn auch die Mythen und Sagas der Isländer zumindest auf Grönland einen geringen Einfluss während der Besiedlung durch die Nordmänner gehabt haben, gab es keine Wechselbeziehung zwischen isländischen und Inuit Erzählungen, was damit zu erklären ist, dass beide Völker sich nicht mischten.

Über Grönland und Knud Rasmussen
Wer sich über die Grönländer informieren möchte, wird auf Knud Rasmussen stoßen, der mit Peter Freuchen eine Handelsstation in Thule (NW-Grönland) gründete, deren Einnahmen er benutzte, seine berühmten Thule-Expeditionen zu finanzieren. Rasmussen, der halb Inuit war, interessierte sich hauptsächlich für die untergehende Kultur der Inuit, die er zu dokumentieren versuchte. Bereits über vierzig Jahr zuvor machte Fridtjof Nansen die Mitteleuropäer durch sein Buch “Auf Skiern durch Grönland. Eskimoleben” auf den Untergang dieser Inuit-Kultur aufmerksam. 1927 beschrieb der Kulturanthropologe Kaj Birket-Smith umfassend die grönländische Kultur in seinem Buch “Eskimoerne”. Solch umfangreiche ethnologische und anthropologische Arbeiten pflegen stets dann zu erscheinen, wenn das studierte Objekt vom Aussterben bedroht ist.
Nansen und Rasmussen prägten maßgeblich unser mitteleuropäisches Bild des Grönländers, wenn es auch Rasmussen war, der das mitteleuropäische Bild vom friedfertigen Grönländer zurechtrückte, indem er über die Morde unter den Inuit Ostgrönlands berichtete, bei denen die Leichen zerstückelt und das Herz der Getöteten verspeist wurde, damit die Geister des Gemordeten nicht den Mörder heimsuchten. An solchen Morden an Grönländern, “die es verdient haben”, war der Schamane Autdârutâ beteiligt, der nach seiner Bekehrung zum Christentum Christian genannt und zeitweise ein Gefährte von Rasmussen wurde.

Knud Rasmussen: Der Sängerkrieg (Berlin 1922, unveränderter Nachdruck, Berlin 2001)

Dieses Buch ist ein Klassiker, aus dem viele Bücher schöpfen, die Mythen und Sagen der Inuit veröffentlichen. In der Ichform werden Märchen und Mythen aus Grönland erzählt. Die naiv wirkenden Illustrationen des Buchs von dem Inuit Kârale geben weitgehend Geister wieder. Im Vorwort betont Rasmussen, dass die Inuit diese Erzählungen für “absolut wahr” halten. Rasmussen war der erste, der diese zuvor nur mündlich vorgetragenen Mythen niederschrieb.

Knud Rasmussen: Die Gabe des Adlers (Frankfurt/M. 1937, unveränderter Nachdruck, Berlin 1996)

Dieser Band ist eine Sammlung von Mythen der Inuit aus Alaska, bei denen es einige Übereinstimmungen mit denen der Grönländer gibt.

Knud Rasmussen: Die große Schlittenreise (Kopenhagen 1933, dtsch. Essen 1944)

In diesem Buch mit einem ausführlichen, informativen Vorwort seiner Übersetzerin Aenne Schmücker beschreibt Rasmussen die längste Schlittenreise (über 30.000 km), die bislang unternommen wurde. Rasmussen erforschte auf dieser Fahrt die idigene Bevölkerung von West-Grönland, dem arktischen Kanada und in Alaska. Diese Schrift ist das umfangreichste Dokument der weitgehend untergegangenen der Inuit.

Knud Rasmussen: Tagebücher (Kopenhagen 1915, dänische Ausgabe)

Tagebücher von Knud Rasmussen wurden 2006 von Zacharias Kunuk und Norman Cohn unter dem Titel “The Journals of Knud Rasmussen” verfilmt (2008 war die Premiere). Dieser Film behandelt die 5. Thule-Expedition von Rasmussen und damit eine Zeit, als der Schamanismus durch das Christentum verdrängt worden war, was Rasmussen sehr beklagte.
Rasmussen filmte auch selbst auf seinen Expeditionen, um das Leben der Inuit zu dokumentieren. Dies hatte er von dem Eskimologe William Thalbitzer übernommen, der 1906 und 1914 in Grönland filmte, dessen Bild des Grönländers jedoch weit von dem des “edlen Wilden”, das Nansen und Rasmussen entwarfen. Thalbitzer arbeitete als Ethnologe in dem Gebiet von Angmagssalik, wo auch Rasmussen später die Mythen sammelte, die er in “Der Sängerkrieg” dokumentierte.

Palos Brautfahrt, Film von Knud Rasmussen, Regie: Friedrich Dalsheim, DK 1933, etwa 80 Min.

“Palos Brautfahrt” ist ein einzigartiges Dokument der Kultur und Natur Grönlands mit berauschenden Naturaufnahmen in Schwarz-Weiß. Dieser Film, der auf Rasmussens 7. Thule-Expedition entstand, versucht zugleich Dokumentarfilm und Spielfilm zu sein, der mit ethnografischen Blick gefilmt wurde. Durch diese Mischung zwischen fiktiver Spielfilmhandlung und ethnografischer Arbeit schuf Rasmussen maßgeblich das Bild vom unschuldigen und zugleich unzivilisierten Grönländer, auf den der Mitteleuropäer nur zu leicht all das projizieren kann, was in der modernen Welt verloren ging. Auf diese Weise verwandelt sich der Inuit in ein Traumbild.

Knud Rasmussen: Reiseleben und Die Gabe des Adlers (Berlin 1996)

Dieses Buch dokumentiert Mythen der Inuit aus Alaska.

Peter Freuchen: Eskimo (London 1932)

Dieser Roman des Begleiters und Freundes von Rasmussen besticht wegen seiner Authentizität und ist eingängig geschrieben. Wer sich über das ungewöhnliche Leben des grönländischen Nationalhelden Rasmussen informieren möchte, der findet in Bauers Buch nicht nur die wesentlichen Informationen, sondern auch dokumentarische Fotografien.

Hans Bauer: Ein Leben für die Eskimo (Leipzig 1965)

Im ihrem Jugendbuch portraitiert Düngel-Gilles Rasmussen als Helden der Inuit.

Liselotte Düngel-Gilles: Knud Rasmussen (München 1964)

Aage Gilberg: Mit Lisbeth nach Thule (Essen 1941)

Eine dänischer Arzt unternimmt seine Hochzeitsreise nach Grönland und berichtet voller Einfühlungsvermögen über die Inuit. Da sich der Autor weder als Forscher noch als Abenteurer versteht, kann er liebevoll seine Begegnungen beschreiben, ohne eine störende Distanz im Namen der Objektivität aufrechterhalten zu müssen. An diesen Beschreibungen des Lebens der Polar-Inuit wird deren großer Unterschied zu den weitaus mehr “verwestlichen” und somit verelendeten Inuit im südlicheren Grönland deutlich.

M. Harbsmeier: Stimmen aus dem äußersten Norden (Stuttgart 2001)

Das ist eine gründlich recherchierte wissenschaftliche Arbeit, die sich einem Thema annimmt, das fast keiner differenziert betrachtete: die Entführung von Inuit nach Europa. Aus diesem Buch lernt man viel über die Missionierung Grönlands, deren Auswirkungen (die Rasmussen als verheerend ansah) und deren ideologischen Hintergründe. Obwohl es eine wissenschaftliche Arbeit ist, liest sich das Buch gut.
Schon frühste Reisende wie Martin Frobisher entführten eine Inuitfamilie, die er Königin Elisabeth I. als Geschenk übergab. Diese Inuit überlebten nur kurz.
In Deutschland stellte 1878 der Tierhändler und spätere Zoodirektor Carl Hagenbeck eine Gruppe Grönländer im Berliner Zoo aus und rückte damit die Inuit in die Nähe der Tiere.
Auch Amundsen brachte zwei Tschuktschen nach Norwegen. Er adoptierte die beiden Mädchen Kakonita und Camilla, die er zu sich nach Uranienborg (sein Haus in Svartskog am Bunnefjord, umweit von Kristiania) mitnahm, wo sie jahrelang eine gute Erziehung genossen, ehe der gestresste Forscher sie wieder “nach Hause” schickte. Hatte Camilla bei ihrer Familie Carpendale in Nome noch ein zu Hause, traf dies für die jüngere Kakonita nicht zu. Aber auch sie wurde zur Familie Carpendale zurückgesandt, die wegen ökonomischer Schwierigkeiten mit beiden Kindern später nach Seattle zog. Kritiker führten sicherlich zurecht an, Amundsen hätte “seine beiden Eskimomädchen” aus Prestigegründen aufgenommen. Der Forschungsreisende selbst rechtfertigte sich, dass sein Zusammenleben mit den beiden Kindern ein Experiment gewesen sei, um die Lernfähigkeit der Tschuktschenkinder zu zeigen. Im Vergleich zu anderen entführten Inuit ging es jedoch Kakonita und Camilla im Hause Amundsen gut, da der Hausherr den Hauch des Familienlebens genoss. “Amundsens beide Eskimomädchen”, wie sie in der Presse genannt wurden, waren jedoch eine einzigartige Ausnahme unter den Inuit, die in südlichere Länder gebracht wurden.
Der Normalfall wurde am Beispiel der Geschichte von Minik verfilmt und in dem Buch über den “Eskimo von New York” dargestellt.

Ken Harper: Minik – Der Eskimo von New York (München, Zürich 2001)

Minik. Film von Axel Engstfeld. D 2005. 80 Min. Mit Anuu Jin Boldsaikhan, Zdenek Stepanek. Im Herbst 1897 bringt der geschäftstüchtige Robert Peary von seiner Grönlandexpedition fünf Inuit in die USA, welche die anthropologische Abteilung des American Museum of Natural History bei ihm bestellt hatte. In kurzer Zeit sterben die Inuit bis auf Minik, der zwölf Jahre in den USA verbringen muss, bis er wieder nach Grönland zurückkehrt.
Diese wahre Geschichte versuchten die Amerikaner mit aller Macht geheim zu halten, was die Filmarbeit äußerst erschwerte. Das Buch über Minik weist eine Fülle dokumentarischer Fotos auf und ist hervorragend recherchiert. Es belegt ferner, dass Peary wenig für die Wissenschaft, aber viel für seine persönliche Bereicherung unternahm. Als Reaktion auf Pearys Ausbeutung der Polarinuit gründet Knud Rasmussen zusammen mit Peter Freuchen seine Thule Handelsgesellschaft, um den Inuit eine gerechte Handelsmöglichkeit zu bieten. Freuchen und Rasmussen lebten mit den in seine Heimat zurückgekehrten Minik eine Zeit lang in dieser Handelsstation zusammen, wovon Freuchen in seinem Roman “Ivalu” (Berlin 1931) berichtet. Minik war das Faktotum dieser Handelsstation.
Dem Inuit, der sich in der Kultur südlicherer Zivilisationen zurechtfinden muss, behandelte bereits, wenn auch komödiantisch, der Film “Eskimobaby”.

Eskimobaby, Film von Walter Schmidthässler, D/DK 1916 (deutshe Premiere Berlin 1918).

Der Grönlandforscher Knud (man beachte die Namensverwandtschaft zu Rasmussen) bringt die Eskimofrau Ivigtut, in die er sich verliebt hat, mit nach Europa, wo sie sich aus Sicht der dortigen Gesellschaft ständig “daneben” benimmt. Knud Rasmussen hatte einige Jahre zuvor tatsächlich einen Grönländer, Osarkrak, mit nach Kopenhagen gebracht, über den ähnliche Kulturkontakt-Geschichten kursierten, wie sie dieser Film erzählt.

Høegs Fräulein Smillas Gespür für Schnee (München 1994)

Dieses Buch war ein Weltbestseller, dessen Ende ich für misslungen, ja geradezu klamaukhaft halte. Der Beginn des krimihaften Romans gefällt mir, aber dann fällt er stark ab. Durch seine Verfilmung wurde ein breiteres Interesse an Grönland geweckt.

Francois Lelord: Durcheinander der Liebe (München 2008)

Diesen Roman des französischen Bestsellerautors finde ich äußerst lesenswert und amüsant. Er schildert aus der Sicht eines Inuit das Sexualverhalten der Europäer.

Jørn Riel: Vor dem Morgen (Zürich 2007)

Der Däne J. Riel, der für seine skurrilen Geschichten bekannt ist, schildert in diesem Buch ergreifend den Niedergang einer Inuit-Siedlung und Gruppe auf Grönland. Die Handlung spielt in der Mitte des 19. Jahrhundert. Dieses Buch wurde gerade verfilmt unter dem Titel.

Before tomorrow. Regie: Marie-Hélène Cosineau und Madeline Ivalu, Kanada 2008

Andere polare Gruppen
Über die Tschuktschen (NO-Sibirien) und deren Leben schrieb der tschuktschische Autor Rytcheu einige informative Romane, die in deutscher Sprache im Züricher Unionsverlag vorliegen.

Juri Rytcheu: Die Suche nach der letzten Zahl (Zürich 1997)

In diesem Roman beschreibt Rytcheu wie Amundsen 1918 vor der tschuktschischen Küste überwintert und dort auf die einheimischen Jäger stößt.
Ebenfalls im Unionsverlag erschien 2008 das Gesamtwerk des kirgisischen Autors Tschingis Aitmatow zu seinem achtzigten Geburtstag, den er jedoch nicht mehr erlebte.

Tschingis Aitmatow: Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft (Berlin, Weimar 1980, nun Zürich 2008)

Die rührende Geschichte spielt im Boot von Robbenfängern im Ochotskischen Meer.
Über das Volk und die Legenden der Athabasken schreibt die 1960 in Alaska geborene Velma Wallis, die selbst jahrelang als Trapperin in traditioneller Art der Athabasken lebte.

Velma Wallis: Zwei alte Frauen (München 1999)

Sie beschreibt, wie in einer Hungersnot der Stamm zwei alte Frauen zurücklässt und diese um ihr Überleben kämpfen. Hatte der Pelzhandel zunächst einigen arktischen Völkern in Kanada und Sibirien zu einem bescheidenen, aber nie zuvor gekannten Reichtum verholfen, war jedoch seine langfristige Auswirkung verheerend. Innerhalb einer Generation verlernten die Angehörigen dieser Völker ihren traditionellen Robben- und Walfang. Als die Nachfrage nach Pelzen stark abnahm, waren sie nicht mehr in der Lage, sich durch ihre traditionelle Jagd zu ernähren und es brachen in diesen Gebieten Hungersnöte aus.
Ferner schrieb Velma Wallis den Roman vom Vogelmädchen, in dem sie die Legenden ihres Volkes unterhaltsam verarbeitet.

Velma Wallis: Das Vogelmädchen und der Mann, der der Sonne folgte (München, Zürich 1997)

Olga Kharitiri: Das weiße Land der Seele (München 1996)

Diesen Roman über nordsibirischen Schamanismus fand ich spannend zu lesen. Er berührt luzides Träumen und schamanistische Techniken, die unkitschig beschrieben werden. Die Autorin behauptet, es handele sich um eine wahre Geschichte. Über die heutige Inuit-Kultur an der Nordwest-Passage schrieb der amerikanische Autor Jonathan Watermann ausführlich in dem Buch seiner Soloexpedition mit Boot und Hundeschlitten in deren Gebiet. Wer die Inuit romantisiert, für den ist dieses realistische Buch die beste Medizin. Außerdem entgeht dieser Abenteurer im Gegensatz zu vielen National Geographic Autoren der Peinlichkeit, sich ständig selbst zu loben.

Jonathan Waterman: Das Licht der Arktis (München 2003)

Der gut informierte Autor stellt ungeschönt die sozialen Probleme der Inuit wie Alkoholismus, Inzest, Vergewaltigung, Mord und die hohe Selbstmordrate bei Jugendlichen weitgehend als Ergebnis einer verfehlten Politik dar. Er schildert ein Maß an Armut und Verzweiflung, das die meisten Bücher über diese Kultur ausblenden. Er verschweigt auch nicht, dass in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts viele Missbrauchsfälle von Angehörigen der römisch-katholischen Kirche verübt wurden, weswegen die katholische Kirche bei den Inuit fast keine Rolle mehr spielt.

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Der exklusive Ort jenseits der Massen

“Heutzutage ist es ein Handwerk, Forschungsreisender zu sein; ein Handwerk, das nicht, wie man meinen könnte, darin besteht, nach vielen Jahren intensiven Studiums bislang unbekannte Tatsachen zu entdecken, sondern eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und – möglichst farbige – Bilder oder Filme anzusammeln …”

Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen

Je schwieriger ein Ort zu bereisen ist, desto attraktiver erscheint er. Einer zu bequem geordneten Welt scheint man durch das Abenteuer zu entkommen. Dies kann kein Massentourismus in die Sonne bieten. Dazu kommt, dass im Norden die Klarheit gesucht wird, die stets mit der Kälte assoziiert wird. So ist der Werbeslogan Grönlands klug gewählt “the coolest place on earth”. Zugleich ist der postmoderne Traum vom Norden mit dem Abenteuer der Zeitreise verbunden. Wir reisen vorwärts in die Vergangenheit, in eine Landschaft, in der sich eine Eiszeit zurückzuziehen scheint, also in die Urzeit. Das wird mit Einfachheit, eben mit jener Klarheit verbunden, der das “knitty gritty” der modernen, bis ins Detail geregelten Massengesellschaft fremd ist. Insofern ist der Traum vom Norden einer der Flucht in die Freiheit, weg von der Vermassung hin zur Selbstbestimmung, die allerdings durch die Natur begrenzt wird.
Immer noch wirken Pytheas und Brendan in uns, die uns den Nordens als Tor zur Anderswelt wahrnehmen lassen. Das wird gemischt, mit der Vorstellung des romantischen Helden, der wie ein kleiner Amundsen (fast) auf sich gestellt, in der Auseinandersetzung mit der Natur wächst. In Konfrontation mit der Großartigkeit der Natur hofft man selbst großartig zu werden. Und ich frage mich, ob dieser Traum vom Norden nicht ein zutiefst asozialer und elitärer ist, in dem unsere menschenscheuen Tendenzen die Oberhand gewinnen.
Man läuft stets Gefahr, sich bei verblödenden Vereinfachungen zu erwischen: Natur ist gut, Kultur ist böse. Die Realität der Arktis ist vielmehr, dass sie fast nur in einer Gruppe zu bereisen ist, bei der jeder auf den anderen angewiesen ist. Gerade im Eis sind soziale Qualitäten gefragt, auch wenn ich öfter auf meinen Arktisreisen hörte: “Es ist großartig, aber toller wäre es, allein hier zu sein.” Auf der Eisbär-Postkarte wird man schwerlich ein “wish you were here” lesen. Wenn man beim Traum vom Norden den Menschen entkommen will, dann speziell den Frauen. Walfänger, Abenteurer, Jäger und Forscher, die es in den Norden zog, waren stets Männer. Zum Norden wurde und wird niemals weiblich assoziiert . Der Norden bleibt der Ort, an dem der Mann sich bewährt.

Geo Special, Nordmeer (Hamburg 1996)

Dieses Heft bietet einen guten Überblick über die Nordpolargebiete heute (allerdings ohne Jan Mayen) und weist im Stil von “Geo” atemberaubende Fotos auf.

Jan Mayen

Manfred Hausmann: Bis nördlich von Jan Mayen (Neukirchen-Vluyn 1978)

Ein erstaunlich langweiliges Buch, in dem man wenig über die Gegend lernt.

Eiszeit (Anthologie s.o.)

Die Jan Mayen Story von T. Kastura finde ich einen gelungenen, unterhaltsamen kleinen fiktiven Text über das Leben in der Wetterstation auf diesem Minikontinent.

Jörgen Berggrav: Jan Mayen (Bodø 2005)

Dies ist das schönste mir bekannte Buch über Jan Mayen vom früheren Leiter der Station auf dieser Vulkaninsel. Die Texte sind zweisprachig (norwegisch und englisch) und führen hervorragend in alle Aspekte dieser Insel ein, was mit ausnehmend schönen Fotos unterstützt wird.

Rolf Stange: Jan Mayen (Eigenverlag Dortmund 2006)

Hierbei handelt es sich um einen Reiseführer eines deutschen Geografen, der als Expeditionsleiter arbeitet. Das Buch gibt einen guten Überblick über alle Aspekte dieser Vulkaninsel.

Grönland

Ingeborg Engelhardt: Ein Schiff nach Grönland (Hamburg 1988)

Dieses informative Jugendbuch erhielt 1962 den deutschen Jugendliteraturpreis. Es schildert Ähnliches wie die zuvor genannte Jane Smiley in ihren Buch “Grönland-Saga”.

Spitzbergen
Spitzbergen ist jenes Inselarchipel im Eismeer, das bis in die Neuzeit unbesiedelt blieb. Es wurde zwar von Walfängern und Jägern für kurze Zeit angesteuert, aber bis ins zwanzigste Jahrhundert, als es Norwegen zugesprochen wurde, nie dauerhaft besiedelt. Heute gilt es als ein beliebter Ausgangspunkt für Reisen in die Hohe Arktis, da es durch den Flugplatz in Longyearbyen leicht erreichbar ist. Nirgendwo sonst auf der Nordhalbkugel kommt man so einfach in derart hohe Breiten. Thema der Literatur über dieses Inselarchipel ist so häufig der Expeditionstourismus.

Anne Ragde: Mord in Spitzbergen (München 1998)

Als Krimi fehlt diesem Buch, das auf einer Kreuzfahrt spielt, etwas Wesentliches, nämlich ein überzeugender Spannungsaufbau. Sehr treffend wird jedoch die Stimmung auf einem Expeditionsreise-Schiff beschrieben. Ein großer Erfolg im Jugendbuch waren die Bücher von Pullmann, die im Original unter dem Titel “Northern Light” herauskamen.

Phillip Pullman: Der goldene Kompass (Hamburg 1996)

Dieses Buch ist der erste Band der Trilogie, eine fantastische Geschichte, die auf Spitzbergen spielt.
Zu erwähnen wären noch die beiden Reiseführer:

Andreas Umbreit: Spitzbergen-Handbuch (Kiel 1996)

Dies ist ein häufig wieder aufgelegter Reisführer über das Inselarchipel im Eismeer, ebenso wie Stanges Buch.

Rolf Stange: Spitzbergen – Svalbard (Eigenverlag Dortmund 2007)

Reiseberichte:

Louis Beyens: Arktische Passionen (München 2000)

Ein moderner, gut lesbarer Reisebericht eines Biologen, der einige Gegenden der Hoch-Arktis kenntnisreich beschreibt

Hans-Otto Meissner: Im Zauber des Nordlichts (Gütersloh o.J.)

Meissner berichtet über seine Reisen in unterschiedliche Gebiete des hohen Nordens. Er lebte und jagte mit Einheimischen, berichtet über kulturelle, soziale und politische Verhältnisse in Spitzbergen, Grönland, Neufundland, Alaska und auf Sachalin. Das Buch weist viele Fotos auf und ein lesenswertes Kapitel über die Bezwingung der NO-Passage.

R. Ullrich: Skizzen aus der Nordost-Passage (Hamburg 2004)

Dieses Tagebuch des Malers ist wunderschön und das von vorn bis hinten. Text und Bilder passen harmonisch zusammen. Es ist eines meiner liebsten Arktisbücher.
Arved Fuchs, der Expeditionsleiter dieser Reise, veröffentlichte ein Jahr zuvor sein Buch dieser Reise, das informativ und anschaulich mit Fotografien bebildert ist.

Arved Fuchs: Kälter als Eis (Bielefeld 2003)

T. Kastura: Flucht ins Eis (Berlin 2000)

Kastura kommt mir wie der deutsche “Eis-Streber” vor, der alles gelesen und zu allem eine Meinung hat. Wer sich in der Arktis-Literatur auskennt, der sieht, dass im Grunde Kasturas Idee nicht so originell sind. 1995 veröffentlichte z.B. Tor Bomann-Larsen seine hervorragende Amundsen-Biografie, in der man vergleichbare Kritikansätze findet. Dennoch gebe ich Kastura in vielem recht. Er ist einer der wenigen – außer Nansen, Laurens van der Post “The Hunter And The Whale” und Lopez – der über die Arktis jenseits der gängigen Klischees philosophiert.
Schon 1998 untersuchte der deutsche Sozialwissenschaftler Claus Leggewie (Universität Gießen), was Menschen am Abenteuer anzieht. Er betrachtet dabei auch Polarforscher wie Sir Ernest Shackleton. Einen Abriss seiner Arbeit stellt er in einem Geo-Artikel dar.

Claus Leggewie: Und ewig lockt das Abenteuer. In: Geo Nr. 10, Oktober 1998, S.132-138

Leggewie stellt den Helden als elitäre Figur dar, die von Rivalität angespornt wird (wie wir es von Amundsen und Scott kennen).Wie Sigmund Freud schon bemerkte, will der Held das alleine erreichen, wozu selbst die Gruppe nur schwer in der Lage wäre. Solche Helden brachte vorzüglich die viktorianische Epoche der angelsächsischen Welt hervor. Sie züchtete den extremen Individualismus in einer langweiligen Gesellschaft der Herrschaft des Alltäglichen. Im Sozialstaat heute, in dem Menschen versprochen wird, dass Versicherungen das Leben risikofrei halten, wird das Heldenbild mediengerecht vermarktet, auf dass zumindest im Fernseh- oder Kinosessel etwas vom Schauer zu spüren ist.
Für die Inuit ist der Held eine zwiespältige Figur und entspricht häufig dem, was C.G. Jung als Trickster beschreibt.

Thriller

H. Innes: The White South (London 1949)

über antarktischen Walfang und The Blue Ice (Glasgow 1986) über arktischen Walfang. Innes war der einer der erfolgreichsten Autoren Englands im Bereich Spannungsliteratur.

M. Cruz Smith: Polar Star (Glasgow 1989)

Dies ist drittklassische main-stream-Literatur über den Fischfang in der Bering See, die sich bemüht, reißerisch zu wirken.

Alistair MacLean: Nacht ohne Ende (Toronto 1959)

Das Buch handelt von einem Flugzeugabsturz in der Arktis durch Erschießen des Pilots und der Rettung der Überlebenden auf einer Forschungsstation. Wie “Polar Star” ist es effekthaschend reißerisch geschrieben.

Giles Blunt: Blutiges Eis (München 2005)

Dies ist ein Krimi nach gewöhnlichem Strickmuster, der Nord-Kanada spielt, wo CIA und kanadischer Geheimdienst eine Rolle spielen.

J. Rollins: Mission Arktis (Berlin 2006)

Sehen wir davon ab, dass dies wie “Polar Star” ein Buch des kalten Kriegs ist, in dem die Russen klischeehaft die Bösen sind, ist es doch gut und spannend geschrieben. Die Geschichte ist gut erfunden – ich glaube keineswegs, dass sie echt ist, wie der Autor betont.

Clive Cussler: Eisberg (München 1978)

Wie in “Mission Arktis” wird auch in diesem Spionageroman die Idee aufgenommen, dass in einem Eisberg etwas eingefroren ist. Ist es bei “Mission Arktis” eine verlassene russische Forschungsstation, so handelt es sich hier um ein Schiff. Dieser Roman ist ein Action-Thriller, der nach dem üblichen Muster gestrickt ist und stilistisch erhebliche Mängel aufweist.

L. Henriksen: Bleich wie der Schnee (München 2004)

Dieser hoch gelobte Roman ist spannend und stilistisch gekonnt geschrieben. Wie in allen nordischen Krimis und überhaupt in der nordischen Literatur – z.B. bei Hamsun und selbst bei H. Wassmo, obwohl es bei ihr auch Szenen voller Lebensfreude gibt – werden depressive Charaktere und Gewalt beschrieben. Dieser Roman von Hendriksen wurde von der Kritik mit Annie Proulx verglichen. Ich jedoch finde “Schiffsmeldungen” epischer und nicht so psychologisch wie dieser Norwegen-Krimi.

Cecilie Enger: Das kalte Licht des Nordens (Hamburg 1998)

Ein weiterer norwegischer Roman, der in der europäischen Arktis (Finnmark) spielt. Das Thema ist eine Frauenfreundschaft und die übliche Wendung in arktischen Romanen darf nicht fehlen: im Schneesturm kommt die Läuterung und Verbindung der Hauptpersonen.

Willem Frederic Hermans: Nie mehr schlafen (Köln 2002)

Dieses Buch des führenden niederländischen Autors wurde von der Kritik hoch gelobt. Es weist einige philosophische Stellen auf und es ist ein Arktisroman ohne Arktisklischees. Ich hadere etwas mit dem Stil (wahrscheinlich auch, weil das Buch als Klassiker gilt). Es gleitet mir zu oft in die Umgangssprache ab. Sehr treffend wird die Wissenschaftlerszene beschrieben. Die Hauptperson ist brillant psychologisch konzipiert.

Klaus Böldl: Studie in Kristallbildung (Frankfurt/M. 1997)

Der Roman spielt in Ostgrönland, wurde von M. Reich-Ranicki hochgelobt. Ausführliche Beschreibungen schaffen eine genuine arktische Stimmung.

Eine umfangreiche Bibliografie der Bücher der Polargebiete findet der interessierte Leser in der “Polarbibliothek” der Universität Bonn, die ein Bestandteil des Polar-Labors ist.
http://www2.kah-bonn.de/bibliothek/studiolo/polarbibliothek.pdf
Diese Website listet auf über dreißig Seiten Titel zum Thema Polargebiete auf.

Nachtrag Juli 2011:
2011 veröffentlichte der Schweizer Unionsverlag die deutsche Ausgabe von Fergus Fleming „Barrow`s Boys“, eines der besten Werke, das über die Entdeckungsreisen zwischen 1816 und Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts berichtet. Die unglaublichen Geschichten von wahrem Heldenmut und bravourösen Scheitern, von atemberaubender Selbstüberschätzung, Fanatismus und Starrsinn speziell bei der Suche nach der Nordwestpassage werden detailreich dargestellt und im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen über diese Expeditionen von der Politik eines Mannes her, nämlich John Barrow, erklärt. Obwohl Barrow als Zweiter Sekretär der Admiralität sturer Bürokrat war, verführte er Männer wie den Amateur William Edward Parry, die Brüder James und John Ross, den Volkshelden John Franklin, den Versager Edward Belcher, der dennoch hoch geehrt wurde, und viele andere, die Nordwestpassage zu erkunden, von der der kenntnisreiche Walfänger und Wissenschaftler William Scoresby wie später auch deren erster Bezwinger Roald Amundsen überzeugt waren, dass sie keinen wirtschaftlichen Nutzen brächte. – Wer sich für die Expeditionsgeschichte des 19. Jh. interessiert, für den ist dieses Buch eine Fundgrube, das die Intrigen hinter den Kulissen der großen Expeditionen beschreibt.

Nachtrag August 2011
Ich las gerade Dan Browns „Deception Point“ (dtsch. „Meteor“), ein Buch, das er zwei Jahre vor „Da Vinci Code“ veröffentlichte. Dieses Buch spielt zu einem großen Teil in der Arktis (Ellesmere Insel, Hoch Arktis). Freilich ist Brown ein Unterhaltungsschriftsteller, der stets nach dem gleichen Grundmuster schreibt, was schon der amerikanische Autor Jeffrey Eugenides kritisierte. Wie auch in seinen späteren Welterfolgen erzählt er in einem atemberaubenden Tempo ohne literarische Finessen und der Leser bekommt leider nur am Rande Informationen über das Leben von Forschern auf einem Eisschelf.

Klausbernd Vollmar

© Klausbernd Vollmar, Cley/Norfolk/UK 2011
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Die in diesem Essay erarbeiteten Gedanken sind geistiges Eigentum des Autors Klausbernd Vollmar und unterliegen den geltenden Urheberrechtsgesetzen. Die ganze oder teilweise Vervielfältigung sowie jede Weitergabe an Dritte ist nicht gestattet