We are a pattern-loving, exception hating species
Steven Pinker
Die Welt ist die Handschrift einer anderen, niemals völlig lesbaren Welt; allein die Existenz entziffert sie
Carl Jaspers
Hans Blumenberg erinnert uns in seinem Wissenschaftsklassiker „Die Lesbarkeit der Welt“ daran, dass der Traum seit der frühen Neuzeit unsere Wirklichkeitsauffassung problematisiert. Mit dem Sich-Wundern über den Traum löste der Traum das Wunder ab. Descartes und Leibniz versuchten brieflich zu klären, ob das Leben ein konsistenter und endloser Traum sei. Die Frage der Abgrenzung zwischen Traum und Wirklichkeit konnten sie trotz allen aufklärerischen Elans nicht lösen. Ihnen erging es wie Tschuang Tse (4. Jh. v.u.Z.), der sich in seinem berühmten Schmetterlingstraum fragt, wer denn wen träumt – der Schmetterling ihn oder er den Schmetterling.
Heute erkühnt sich niemand mehr, Traum und Wirklichkeit scharf von einander zu trennen – sie sind siamesischen Zwillingen gleich nicht auseinander zu reißen.
Das Rätsel „was ist die Wirklichkeit – was ist Traum?“ führt den Denkenden zu der Wahrnehmung. Sie lässt uns etwas als wirklich oder traumhaft erleben. Je mehr etwas von unserer erwarteten Wahrnehmung abweicht, desto eher sind wir gedrängt es als traumhaft zu bewerten. Aus diesem Grund wird uns im Traum am ehesten bewusst, dass wir träumen, wenn wir mit dem Unwahrscheinlichen, also einer großen Abweichung von unseren Erwartungen konfrontiert werden. Die Wahrnehmung entscheidet simpel: Wenn wir ohne Hilfsmittel fliegen können, muss es ein Traum sein, genauso verhält es sich, wenn Bäume reden oder mit ihren Zweigen nach einem greifen. Es kommt zu einer einfachen Gleichung: wirklich ist das Wahrscheinliche, das Unwahrscheinliche ist traumhaft. Was als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich bewertet wird, ist eine Frage des Zeitgeistes.
Was sehen wir aber wirklich? Zunächst nur Bilder und Symbole, die mit anderen Bildern und Symbolen erklärt werden – was wir Deutung nennen. Der Traum zeigt sich (wie die Wirklichkeit) in einer Bilderschrift, weswegen Freud nach der Lektüre der Schriften des Begründers der modernen Linguistik Ferdinand de Saussure in seiner „Traumdeutung“ schreibt, der Traum sei einer Schrift vergleichbar. Er ist eine schriftliche Mitteilung an uns, die wir wie jeden anderen Text verstehen können, da wir diese Schrift kennen (wahrscheinlich eine angeborene Fähigkeit).
Schrift ist ein Supplement für das Gedächtnis wie schon die leidige Einkaufsliste zeigt. Die Bilderschrift des Traums erinnert uns an das Repertoire unserer Möglichkeiten und an Vergangenes, das heute noch wirkt. Schrift möchte stets etwas bewahren. Was bewahrt der Traum? Die Erinnerung an die Umstände, als sich grundlegende Muster in uns ausbildeten (die Freud dogmatisch in der frühen Kindheit ansiedelt). Erst wenn wir die Entstehung der Muster wieder erleben, können wir sie bewusst einsetzen, modifizieren oder auf sie verzichten – je nach der Situation. Alle Entzifferung der Traumschrift zielt somit auf Mustererkennung und gerade in der Unwahrscheinlichkeit des Traumbilds zeigen sich unsere Wahrnehmungsmuster deutlicher als im Gewohnten, das uns blind macht.
Wir lösen das Bilderrätsel, wenn wir den Diskurs der Nacht in jenen des Tags übertragen. Die Bedeutung eines Bilds oder einer Bildsequenz ist ein Link zur inneren Datenbank des Träumers/der Träumerin. Wird Wasser im Traum als verschlingend erlebt, ist dies ein gesetzter Link – oder besser gesagt: ein Link, der sich selbst gesetzt hat. Die Analyse solcher Verlinkungen zeigt Muster, die prägend für die Wahrnehmung und somit für die Konstituierung der Wirklichkeit für den Träumer/die Träumerin ist. Wer Wasser mit Verschlingen verlinkt, der hat sich eine Welt geschaffen, die von der Furcht vor Wasser geprägt ist. Menschen, die sich verstehen (einer Kultur angehören), teilen einen Großteil der Link-Muster, was sich in der Wirkung der Traumbildern von Werbung und PR deutlich zeigt. Aber Link-Muster erzeugen auch Streit: Der einzelne sieht seine Link-Muster als einzigartig und individuell. Ein Beobachter tendiert dazu, in diesem Link-Mustern Typisches zu sehen. Im Link-Muster zeigt sich beides zugleich:
das System der Sprache (das Überpersönliche, Regel), das die Grundlage des Verstehens ausmacht
die Wirkung der Erfahrung (das Persönliche, Regellosigkeit), die das persönliche Verständnis der Bildersprache ausmacht.
Die Quelle der Träume ist das Es. Es entzieht sich anarchisch jeder Einordnung. Wie in der Bilderschrift der Träume durchdringen sich Regelhaftigkeit und Regellosigkeit in ihm.
Damit eine Schrift und deren Verständnis funktioniert, bedarf es beider Strukturen: Code (die Sprache als System, Grammatik) und Nachricht (Sinn, Gehalt). Man ist zugleich mit zwei Seiten der Schrift konfrontiert, mit dem Sinn, der von der Bilderschrift bezeichnet wird, und mit dem Schriftzeichen an sich. Der Sinn ist die Deutung, die wir der Schrift der Bilder geben. Diese Bilderschrift des Traums ist also weder persönlich oder individuell, wie das Herz des Romantikers es sich vorstellt, noch ist sie allgemein. Sie ist stets beides, wobei ihr allgemeiner Anteil von der Ideologie der Umgebung des Träumers geprägt ist (was Freud als Über-Ich bezeichnete), ihr persönlicher Anteil dagegen von seiner Privatideologie (Ideologie könnte man als ein bestimmtes typisches Link-Muster fassen). Dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist, macht das Wesen jeder Schrift und Sprache aus.
In jedem von uns gibt es ein allgemeines Set von Regeln, das zeigt, welche Bildkombinationen als sinnvoll zulässig sind. Alles, was außerhalb dieser Regeln liegt, erleben wir als chaotisch und unwahrscheinlich, wenn nicht gar als unmöglich – kurzum es ist unlesbar für uns. Diese Regeln sind produktiv, da sie kombinatorisch wirken, d.h. sie erzeugen eine unendliche Menge von neuen Bildern. Archetypen generieren weitere Bilder in einem verzweigten Baum, der mit dem unserer inneren Enzyklopädie persönlicher Erfahrungen verlinkt ist. Die furchtbare Mutter als Abkömmling des Archetyps der Anima wird zur realen Mutter im Traum und kann von jeder als böse empfundenen weiblichen Person dargestellt werden – je nach individueller Verlinkung. Nur der Naive wähnt, dass diese persönliche Verlinkung nach der Devise „everything goes“ Freiheit bedeutet.
Jeder, der sich mit der Bilderschrift im Traum beschäftigte, kommt nicht umhin deren Doppeldeutigkeit zu erkennen. Der Traum teilt sich in symbolischen Bildern mit, die von einem überpersönlichen Konzept generiert werden (was in Symbollexika betont wird) und welche die persönliche Erfahrung des Träumers/der Träumerin individuell überarbeiten. Es ist wie bei allem Geschriebenen: auf der einen Seite ähnelt es sich, auf der anderen ist es individuell. Da jeder Text einen Metatext (Watzlawik) erzeugt, den wir als Deutung erleben, sollten wir aus unseren Träumen eine neue Geschichte schreiben, die wir uns erzählen und die unser Ich befriedigt. Wir konstituieren ständig unsere Welt mit solchen Geschichten, die wir uns freilich unbewusst erzählen. Traumdeutung dagegen ist ein bewusstes Geschichtenerzählen.